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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 3
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Page 3
Jetzt war das anders. Es gab kein Mitspracherecht, keine Wahlen, keine Freiheit. Der König entschied, was wir essen, lernen oder denken durften. Aber vor allem setzte er mit aller Härte durch, was er als Notwendigkeit für unseren Fortbestand bezeichnete: das strenge Reglement jedweder Technologie durch den Staat.
Im Jahr 2134 waren wir praktisch wieder in der vortechnologischen Steinzeit angekommen. Freie digitale Kommunikation war untersagt, Informationszugang nicht mehr für jedermann verfügbar. WorldNet? Vergiss es. MediaLinks und ContentLinks? Keine Chance. Alles, was es noch gab, wurde vom König kontrolliert und von ihm nur eingesetzt, wenn es der Kontrolle der Bürger diente. Es war das Ende jeder freien Entfaltung, das Ende jeder objektiven Meinungsbildung. Das Streben nach Freiheit und Wissen, in den Industrienationen ehemals ein Geburtsrecht unserer Spezies, war absoluter Kontrolle gewichen. Das war kein Paradies. Es war die Hölle.
Offiziell nannte man es »Programm zur Rückbesinnung auf entscheidende Werte und soziales Zusammenleben«, weil die Menschen angeblich aggressiv und nicht mehr zu mitfühlendem Verhalten fähig gewesen waren. Aber so stand es nur in den offiziellen Berichten und Bekanntmachungen. In der Bevölkerung hatte sich ein anderer Ausdruck durchgesetzt. Wer jetzt über diese Zeit sprach, in der alle privaten Kommunikationsgeräte, Dateneinheiten und visuellen Implantate beschlagnahmt und zerstört worden waren, benutzte dafür nur einen Begriff: die Abkehr.
Ich werde nie den Tag vergessen, als die Abkehr in Kraft trat. Wir hatten in der Nähe von Paris gelebt, mein Bruder, meine Eltern und ich. An einem Dienstag im Frühjahr hatte es über alle Kanäle eine Mitteilung gegeben: Leopold de Marais habe die Macht in Europa übernommen. Ab jetzt würden andere Regeln gelten.
»Bitte händigen Sie jedes technische Gerät, das sich in Ihrem Besitz befindet, an die Kontrolleinheiten aus.« Der Satz hallte noch Tage später in meinen Ohren wider, als würde ich ihn über meine akustischen InterLinks empfangen. Aber die gab es da schon nicht mehr.
Ich war zwölf Jahre alt gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, was diese Worte bedeuteten. Meine Mutter war in mein Zimmer gekommen, aufgewühlt und fahrig. Sie war sonst eine sehr beherrschte Frau. Ihre Unruhe hatte mir Angst gemacht.
»Ophelia, bitte pack deine Sachen zusammen. Sofort.«
»Was ist denn los? Welche Sachen?«
Ich hatte an meinem Holodesk gegessen, vor mir mein aktuelles Projekt. Es war ein Analysemodul zur Erkennung verschiedener Materialien gewesen, das ich mit meinem Dad entwickelt hatte. Meine Zukunft als Ingenieurin hatte zu diesem Zeitpunkt längst festgestanden.
»All deine Sachen, außer der Kleidung. Wir müssen alles abgeben, was technologiebasiert ist.«
»Alles? Aber –«
»Alles, Ophelia.«
»Ich kann aber doch nicht ohne meine Links, Mum!«, hatte ich protestiert. »Ohne sie kann ich nicht mehr nach draußen, weil ich ständig Schmerzen habe!« Angsterfüllt hatte ich sie angestarrt. Ein Kopfschütteln war die Antwort gewesen.
»Darum kümmern wir uns später. Beeil dich bitte.«
Dann war sie gegangen.
An diesem Tag waren meine Zukunftsträume gestorben, aber sie waren nicht das Einzige gewesen. Die Ehe meiner Eltern, beide hoch angesehene Ingenieure, überstand den Umbruch nicht. Nur zwei Jahre nachdem unsere Pads, Holodesks und sämtliche Hardware für künstliche Intelligenz aus dem Haus getragen worden waren, wurde die Trennung amtlich.
Mein Zwillingsbruder und ich zogen bald mit meinem Vater zurück ins ehemalige England und kurz darauf fand mein Dad wieder eine Freundin. Lexie Freeland war wie er Anglopäerin und lebte mit ihren beiden Kindern ebenfalls in Brighton, keinen Steinwurf von uns entfernt. Es dauerte nicht lange, bis wir bei ihr einzogen.
Das war mein Tiefpunkt gewesen.
Ich hatte versucht, mich an diese Situation zu gewöhnen, die in so vielerlei Hinsicht neu war. Aber zwecklos. Ich mochte die Leute in meiner neuen Schule nicht und wollte mich nicht an den analogen Unterricht gewöhnen. Lexies kleine Kinder fand ich genauso nervtötend wie sie selbst, die Stadt langweilig und farblos.
Mir fehlte das Leben mit den InterLinks für Ohren, Augen und Hände, obwohl meine Mutter damals bereits etwas gefunden hatte, das meine Symptome linderte. Ich war wütend gewesen, enttäuscht und allein.
Dann entdeckte ich eines Tages auf dem Nachhauseweg eine Gruppe von Jugendlichen, die zum Pier gingen. Da ich wusste, dass dort alles geschlossen hatte, folgte ich ihnen neugierig. Es dauerte nicht lange, bis sie mich bemerkten und einer von ihnen mich ansprach. Als überforderte Vierzehnjährige, die ich war, hatte ich etwas gestammelt und war weggerannt.
Das war mein erster Kontakt mit der Gruppe gewesen, die sich ReVerse nannte. Aber dabei war es nicht geblieben. Beim nächsten Mal lief ich nicht weg, als man mich ansprach. Eine Woche später nahm ich an meinem ersten offiziellen Treffen teil.
Einzelnen Aufruhr gab es öfter, aber ReVerse war der einzig ernst zu nehmende Widerstand im Land. Wir waren auf die Städte verteilt, untereinander vernetzt und gut organisiert.
Während andere Gruppen sinnlos demonstrierten oder wie die sogenannten Radicals Anschläge verübten, gingen wir gezielt vor und besorgten uns Informationen, mit denen wir dem König schaden und uns selbst helfen konnten. ReVerse ließ sich nicht zu unüberlegten Aktionen hinreißen, wir agierten im Verborgenen und warteten auf den richtigen Moment. Aber eines war klar: Wenn es an der Zeit war, würde der König nicht wissen, was ihn getroffen hatte. Und dann würde die Abkehr Geschichte sein.
4
Die QuarterSupply-Station war gut besucht, als ich dort ankam. Überall in der Stadt gab es diese Gebäude, eines für jedes Viertel. Man erhielt dort vorbestellte Lebensmittel und Kleidung aus dem königlichen Sortiment – denn wenn man nicht selbst stricken wollte, wie die Idles oder Lexie es taten, musste man auf die sogenannte Lilienkleidung zurückgreifen. Der König hatte jede Form von industrieller Produktion, die über den Eigenbedarf und kleineren Tauschhandel hinausging, unterbunden. Es war völlig egal, ob es dabei um Klamotten, Geschirr oder Möbel ging, seine Paranoia und sein Ego duldeten nichts, was auch nur entfernt mit Technologie zu tun hatte und nicht seiner Kontrolle unterlag. Aber natürlich war das nur zu unserem Besten. Bla, bla, bla.
Holte man etwas in der Supply-Station ab, gab es oft den neuesten Klatsch dazu. Seit man Nachrichten nur noch auf offiziellen Pads des Königs lesen konnte, wurden inoffizielle Neuigkeiten von Person zu Person weitergegeben. In erster Linie war es Zeitvertreib, weil es sonst nicht viel zu tun gab. Ich sah mich um. Unter diesen Menschen waren Wissenschaftler, Ingenieure und andere kluge Köpfe, die früher die Welt verändert hatten. Für sie war der Gang zur Supply-Station nun das traurige Highlight des Tages.
»Hey, Phee, alles klar?« Liora Pike, eine Freundin von mir, drängte sich durch die Menschen und kam mit einem schwer beladenen Korb auf mich zu. Sie lebte bei ihren Großeltern, die außerhalb wohnten und auf die öffentliche Versorgung angewiesen waren.
»Hi, das ist ja ein Zufall.« Ist es nicht. Wir taten nur so, damit die Übergabe der gestohlenen Daten unauffällig ablief. »Haben sie eure Station immer noch nicht wieder aufgebaut?« Die Radicals hatten die Vergabestelle am Stadtrand vor zwei Wochen niedergebrannt.
»Nein, es fehlt Material. So lange werden wir auf die anderen Stellen verteilt.« Liora hob die schmalen Schultern.
Wir hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Ich hatte haselnussbraune Haare und bekam in der Sonne schnell Farbe, mit 1,75m war ich recht groß, dazu schmal und durch das regelmäßige Training athletisch. Liora dagegen war kleiner und dunkelhaarig, hatte graue Augen und eine zerbrechliche Statur. Letztere täuschte allerdings: Meine Freundin war genauso lange beim Widerstand wie ich.
»Kommst du nachher auch zur Probe?«, fragte sie.
»Glaubst du, das lasse ich mir entgehen?« Ich grinste und deutete auf meine Tasche. »Ich habe übrigens deine Bücher mitgebracht, die alten Sagen über Odysseus. Sie sind ziemlich schwer. Ich hoffe, du kannst sie tragen.«
»Ach, das ist kein Problem. Ich fahre eh mit der Trans
Unit.« Liora streckte die Hand nach der Tasche aus und schob sich den Riemen über die Schulter. »Wir sehen uns später im Theater. Danke für die Bücher.« Sie hob die Hand und verschwand in Richtung des nächsten Terminals.
Ich fühlte mich leichter, als ich zum Eingang der Station ging, um meine Bestellung zu holen. Die Übergabe war geglückt, und nun lag es in Lioras Verantwortung, den Operator mit den Daten zu Julius zu bringen. Ich hatte es geschafft. ReVerse hatte es geschafft.
Das tiefe Glücksgefühl, das ich früher nach einer geglückten Aktion gehabt hatte, blieb jedoch aus. Es war an dem Tag verschwunden, als sie Knox festgenommen hatten – und wie er war es nie zu mir zurückgekehrt.
Ich brauchte nur wenige Minuten von der Supply-Station bis nach Hause. Seit vier Jahren war das ein zweistöckiger Backsteinbau, der zu einem ehemaligen Werksgelände gehörte. Über dem Haupttor war noch schwach der Schriftzug British Engineerium zu erkennen. Welch Ironie.
Unser Haus lag am Rande des Geländes, auf dem noch weitere Familien und ein paar Alleinstehende wohnten. Als ich über den Hof ging, war es ruhig – keine Stuhlkreise, kein Holzbildhauern, kein Selbsterfahrungskurs. Nur ein paar Kinder spielten neben der Rinderkoppel und winkten mir zu. Ich erwiderte die Geste müde und lächelte. Hier durfte ich niemals unhöflich sein oder mich unangemessen verhalten. Im Engineerium war ich ein Wolf unter Schafen. Niemand durfte meine Zähne sehen.
»Ich bin zu Hause!«, rief ich, als ich die Tür aufstieß und die Tasche mit den Lebensmitteln aus der Supply-Station abstellte. Gemächlich schnürte ich meine Stiefel auf, dann dehnte ich Rücken und Arme. Meine Schultern waren verspannt und die Stelle an meiner Hüfte pochte. Das würde ein enorm großer blauer Fleck werden.
»Endlich!«, rief meine Stiefmutter Lexie, die barfuß in der Küche herumwuselte. Mit ihrem lässig hochgebundenen blonden Haar, der roten Haremshose und dem übergroßen taubenblauen Pullover erinnerte sie mich einmal mehr an eine durchgedrehte Kunststudentin. »Hast du meinen Reis bekommen?«
Ich nahm die Tasche und trug sie zum Esstisch.
»Es ist alles hier, auch das ekelhafte Curry-Zeug, das du wolltest.«
»Du bist ein Schatz, Phee.« Lexie strahlte und steckte sich den Kochlöffel hinter das Ohr. »Auch wenn ich das ›ekelhaft‹ überhört habe. Curry ist gesund, wirkt entzündungshemmend und beugt Krankheiten vor.« Sie hob mahnend den Finger. Dann musterte sie mich. »Hübsche Farben. Du solltest öfter was Buntes tragen.«
Ich sah an mir herunter. Oh verdammt. Ich hatte vergessen, die Jacke des Grauens auf dem Heimweg zu entsorgen. Jetzt hatte mich die halbe Stadt in der Geschmacksverirrung gesehen.
»Ach, das«, sagte ich und zog den Albtraum schnell aus, »das gehört Liora. Mir war kalt und ich hatte nichts dabei.« Ich warf die Jacke in die Ecke zu den Stiefeln. Dann ließ ich mich auf einen Stuhl am Esstisch fallen.
In unserem Loft sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das Wohnzimmer beherbergte nicht nur unzählige Bücherregale und drei bunte Sofas, sondern auch haufenweise Projekte von Lexie, die niemals fertig wurden: Strickzeug auf dem Couchtisch, Papierfetzen für eine Collage auf dem Boden, gefärbte Stoffstreifen an der Wendeltreppe, die zu den oberen Zimmern führte. Dazu kamen die Skulpturen und Zeichnungen meines Bruders Eneas – direkt vor mir lag ein Stapel Aktbilder – und der Kram von Lexies Kindern Fleur und Lion. Das war der Zustand an guten Tagen. An schlechten gab es schon mal lebende Hühner in der Küche oder eine Töpferwerkstatt im Wohnzimmer. Der Teppich war mein fleckiger Zeuge.
»Wann gibt es etwas zu essen?«, fragte ich.
Lexie drehte sich zu mir um. »Keine Sorge, es dauert nicht mehr la–«
»Phee! Ein Glück, du bist da!« Ein blonder Wirbelwind schoss heran und stoppte am Tisch. »Du musst mir den Pullover mit den kleinen Vögeln leihen. Bitteeee.« Herzzerreißend sah Fleur mich an. Sie hatte das Gesicht eines Engels und den Dickkopf eines Panzernashorns – und wusste mit ihren zwölf Jahren beides für sich zu nutzen.
»Der ist dir doch viel zu groß, Flo«, lachte ich.
»Das muss so! Nennt sich Heavysize Look. Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?« Fleur verdrehte die Augen.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich, »in welcher Galaxie gibt es freche Mini-Blondinen, die ihren großen Schwestern Klamotten klauen?«
Fleur musste lachen. »Du bist so doof.«
»Nein, großzügig.« Ich knuffte sie in die Seite. »Du kannst den Pulli haben, wenn du willst.«
»Echt? Du bist die Größte!« Fleur fiel mir um den Hals und ließ erst los, als ich röchelnde Geräusche von mir gab. »Mum, ich geh dann nach dem Essen zu Sophia. Ich komme vor zehn zurück. Okay, vielleicht wird es auch halb elf.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand in Richtung Badezimmer.
»Warst du in dem Alter auch so?«, stöhnte Lexie, die am Herd stand und in zwei Töpfen gleichzeitig rührte.
Ich dachte kurz nach. Als ich zwölf gewesen war, hatte mich die Abkehr von einem zufriedenen Kind in einen hilflosen Teenager verwandelt. Aber das konnte ich Lexie nicht sagen. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr ich das alles hasste.
»Ich hatte nach der Abkehr andere Probleme als Fleur«, antwortete ich ausweichend. »Aber das Verhältnis zu meiner Mutter war damals trotzdem nicht einfach.« Als wäre das irgendwann anders gewesen.
»Das beruhigt mich.« Lexie probierte den Inhalt des einen Topfes. »Aber sei froh, dass du noch jung warst, als die Abkehr ausgerufen wurde. So konntest du dich besser anpassen.«
»Mhm.« Mehr sagte ich nicht dazu. Die Mitglieder von ReVerse trugen ihre Ansichten nicht nach außen. Niemand, der halbwegs intelligent war, tat das. Erst recht nicht vor Leuten wie meiner Stiefmutter.
Lexie war eine Phobe. So nannte man den Teil der Bevölkerung, der schon vor der Abkehr Technologie abgelehnt hatte. Die Phobes hatten entschieden, ohne all das auszukommen, was das Leben lebenswert machte – zum Beispiel virtuelle Welten oder digitale Kommunikation. Sie bewohnten oft Enklaven wie das Engineerium, bauten ihr Gemüse selbst an, hielten sich Tiere und standen auf esoterisches Blabla wie Meditation und Naturanrufungen. Dazu kamen jede Menge absurde Ansichten: Phobes glaubten, das Schlachten von Tieren wäre besser als die synthetisch gezüchtete Variante, sie zogen das Waschen mit der Hand dem mit einer CleanUnit vor und strickten und webten ihre Kleidung selbst. Wenn man mich fragte, war das fast noch dämlicher als die Ansichten der Radicals. Die versuchten zwar, ihre Ziele mit Gewalt und Vandalismus durchzusetzen, aber sie hatten immerhin die richtige Grundidee.
Sobald das Thema jedoch aufkam, schwieg ich. Wenn auf Technologie geschimpft wurde, schwieg ich. Wenn die Errungenschaften der letzten hundert Jahre für Werke des Teufels gehalten wurden, schwieg ich. Obwohl alles in mir widersprechen wollte, hielt ich den Mund. Das war meine Verpflichtung als Mitglied von ReVerse. Wenn man seine Gedanken offen äußern wollte, musste man zu den Radicals gehen. Wenn man etwas bewegen wollte, kam man zu uns.
Lexie holte mich aus meinen Gedanken. »Würdest du deinem Vater Bescheid geben, dass wir in zehn Minuten essen?« Sie legte den Löffel beiseite und nahm einen der Töpfe vom Herd. »Andrew ist im Gewächshaus, er kümmert sich um die Tomaten. Sie wollen nicht wachsen.«
Das könnte daran liegen, dass er Ingenieur ist und kein verdammter Gärtner.
»Natürlich.« Ich lächelte und stand auf. Schweigen und Lächeln, das war mein tägliches Brot bei Lexie. Dabei mochte ich sie eigentlich gern – sie war ein netter Mensch und eine bessere Mutter als meine eigene. Nur ihre Ansichten bescherten mir regelmäßig Brechreiz.
Ich ging kurz in mein Zimmer, um mich umzuziehen und etwas gegen meine Kopfschmerzen zu nehmen. Dann lief ich zurück nach unten. Kühle Luft schlug mir entgegen, als ich die Tür zum Garten öffnete und in Lexies Gummistiefel schlüpfte.
Unser Garten bestand aus einem Stück wildem Rasen, ein paar Beeten und einer Terrasse. Am Rand stand ein kleines Gewächshaus mit sechseckigem Grundriss und fleckigen Scheiben. Als ich näher kam, entdeckte ich meinen Vater an einem Tisch. Er zupfte behutsam die verwelkten Blätter einer Tomatenpflanze ab und setzte sie in ein
en größeren Topf. Als er sich zur Seite drehte, sah ich den verlorenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Unwillkürlich spürte ich einen Kloß im Hals.
Mein Vater, Andrew Scale, war einer der brillantesten Menschen unserer Zeit – oder eher jener Zeit, die mit der Abkehr beendet worden war. Er hatte für MedSol gearbeitet, den Medizintechnik-Konzern der Welt, einen der Big Ten. Für ihn hatte er intelligente Systeme entwickelt, die mittels Nanotechnologie Krankheiten aufspürten und heilten, lange bevor sie ausbrachen. Seine Arbeit hatte Tausenden das Leben gerettet.
Er war aber nicht nur ein Visionär gewesen, sondern vor allem der beste Lehrer der Welt. Ich hatte von ihm gelernt, wie man eine Circuit Printing Unit bediente und Layer erstellte – gedruckte Folien bestückt mit Schaltungen, Steuerungen und Informationen, das Herzstück jeder Technologie. Er hatte mir beigebracht, wie ich etwas erschaffen konnte, wenn ich Wissen und Wollen mit Logik kombinierte. Simple Mathematik hatte er das genannt.
Aber dann war die Abkehr gekommen, hatte ihm sein Lebenswerk genommen und seine Leidenschaft zu etwas Verbotenem erklärt. Die Tore von MedSol waren von einem Tag auf den anderen geschlossen worden. Er hätte danach bestimmt eine Stelle in der Entwicklungsabteilung des Königs bekommen können, denn medizinische Versorgung gab es immer noch, wenn auch auf einem anderen Niveau. Aber mein Vater hatte gesagt, seine Freiheit wäre ihm wichtiger. Jetzt arbeitete er zwanzig Stunden wöchentlich im Elektrizitätswerk, starrte auf einen altertümlichen Monitor und informierte einen Supervisor drei Städte weiter, wenn etwas nicht stimmte. Dazu versuchte er sich an allen Beschäftigungen, die Lexie ihm ans Herz legte. Wenn ich ihn so ansah, bezweifelte ich, dass er sich jetzt frei fühlte. Wahrscheinlich war er nie weiter davon entfernt gewesen. So wie wir alle.