Wie alles begann Read online




  LENA KIEFER

  WIE ALLES BEGANN

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  1. Auflage 2019

  © 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

  in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

  Neumarkter Str. 28, 81673 München

  Alle Rechte vorbehalten

  Umschlagkonzeption: Carolin Liepins, München

  unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock (Neil Lang; Rasulov; BohehStore; Bokeh Blur Background; Tithi Luadthong)

  MP · Herstellung: AJ

  Satz: Uhl + Massopust, Aalen

  ISBN 978-3-641-24246-6

  V001

  www.cbj-verlag.de

  EIN NEUER ANFANG

  Brighton, 14. April 2130

  Ich stand da und versuchte, in der stockdunklen Finsternis, die mich umfing, etwas zu erkennen. Das kühle Stück Metall der Türklinke unter meinen Fingern war die einzige Erinnerung daran, dass ich nicht in ein schwarzes Loch gefallen war.

  Was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Die Frage war nicht originell, aber berechtigt. Gestellt hatte sie jener Teil von mir, der echt Angst hatte, erwischt zu werden. Dummerweise war dieser Teil leiser als der andere. DU MUSST UNBEDINGT Rausfinden, was HIER VOR SICH GEHT, OPHELIA!

  Zögernd löste ich die Hand von der Klinke und wagte mich in die Dunkelheit hinein. Irgendwo musste sie schließlich enden. Mit ausgestreckten Armen machte ich einen winzigen Schritt vor den anderen, tastete nach der Wand, fand sie. Nun ging es schneller, aber die Schwärze blieb. Etwas raschelte auf dem Boden und ich machte einen Sprung zur Seite, verlor den Kontakt zur Wand. Warum hatte ich nicht den anderen Eingang genommen? Den, den sie benutzt hatten? Weil man dich dann sofort erwischt hätte.

  Trotz der vermutlich bepelzten Gesellschaft ging ich vorsichtig weiter. Und lief voll gegen eine Tür.

  »Au, verdammt«, stieß ich aus. Hoffentlich hatte das niemand gehört.

  Diese andere Tür hatte keine Klinke, sondern einen Hebel, der laut knarzte, als ich ihn herunterdrückte. Na spitze. Aber nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, jetzt wieder umzukehren.

  Das Licht auf der anderen Seite war nicht hell, aber es blendete mich trotzdem. Ich kniff die Augen zusammen, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Erst dann schob ich mich durch die Tür und vergaß völlig, in Deckung zu gehen. Sprachlos starrte ich in den großen, runden Raum.

  Mehrere Hundert Sitze in dunklem sattem Rot lagen vor mir, es roch nach Staub und Holzpolitur. Goldene Schildchen am Beginn der Reihen reflektierten das sanfte Licht der Deckenbeleuchtung, der Teppich unter meinen Schuhen war dick und golden. Es hätte mich nicht wundern sollen, wie es hier aussah – schließlich befand ich mich in einem Theater. Und dennoch war es, als hätte ich eine fremde Welt betreten.

  Schritte näherten sich und rissen mich aus meiner bewundernden Starre – und sie näherten sich rasch und energisch. Schnell hechtete ich in die letzte Reihe und duckte mich. Ich fühlte mich wie in einer Agentengeschichte und wagte nicht, zu atmen. Hoffentlich entdeckten sie mich nicht. Hatte ich in den bisherigen 14 Jahren meines Lebens je so etwas Aufregendes getan, wie dieser Gruppe hinterherzuspionieren? Wahrscheinlich nicht.

  »Er hat dich gebeten, dieses Mädchen für uns zu überprüfen?«, fragte eine junge Frauenstimme. »Einfach so, ohne je ein Wort mit ihr gesprochen zu haben?«

  »Mir kam das auch komisch vor. Aber es schien ihm wichtig zu sein, also habe ich ihm den Gefallen getan.« Die andere Stimme war tiefer und sehr basslastig. Ich konnte den Sprecher nicht sehen, weil ich immer noch mit hämmerndem Puls zwischen den Reihen steckte. Aber ich nahm an, dass er ziemlich groß war.

  »Und, hast du was herausgefunden?«

  »Nicht viel. Du weißt ja, wie die Informationslage momentan ist. Aber die Familie ist vielversprechend. Wir werden mehr wissen, wenn wir erfahren, ob die Begegnung nur ein Zufall war. Oder ob er sie einfach nur hübsch fand.«

  »Er?« Die junge Frau lachte. »Niemals.«

  »Wir werden sehen.«

  Sie gingen vorbei, und ich holte tief Atem, den ich die ganze Zeit angehalten hatte. Ein komisches Gespräch, sehr kryptisch, und außerdem hatte es mir keinen eindeutigen Hinweis darauf gegeben, was diese Leute hier trieben. Offenbar überprüften sie irgendwelche Menschen und ihre Familien für jemanden, der Mädchen generell nie hübsch fand. Das brachte mich kein bisschen weiter.

  Vorsichtig spähte ich über die Rückenlehnen der Sitze vor mir und entdeckte eine Gruppe von jungen Leuten, die auf der Bühne zusammensaßen. Allerdings konnte ich nicht hören, was sie sagten, denn sie sprachen nicht gerade laut.

  Mist. Ich muss näher ran. – Und wenn sie dich erwischen? – Ruhe auf den billigen Plätzen!

  Es gab den Haupt- und zwei Seitengänge, aber alle liefen auf die Bühne zu und wurden ab der Mitte des Raumes in helleres Licht getaucht. Ich konnte also nicht nach vorne und dann in eine andere Reihe huschen, ohne bemerkt zu werden. Aber vielleicht gab es noch einen anderen Weg. Ich durfte jetzt nicht aufgeben.

  Aufmerksam sah ich mich um, versuchte, eine Lösung zu finden. Es dauerte wahrscheinlich nur eine halbe Minute, bis ich die kleinen Logen über dem Hauptraum entdeckte, aber mir kam es vor wie Jahre. Kein Wunder. Seit ich dieses dämliche HeadLock nahm, funktionierte mein sonst hyperaktives Gehirn nur noch auf Sparflamme. Das war zwar besser als die Alternative mit ständiger Übelkeit und Migräne bis zur Ohnmacht. Aber deswegen noch lange nicht toll.

  Auf der Bühne lachte jemand und ich konzentrierte mich wieder. Prüfend sah ich zu den Logen. Wenn ich mich in der vordersten versteckte, dann konnte ich wahrscheinlich hören, was darunter geredet wurde. Und dadurch, dass sie ein paar Meter über der Bühne war, würde mich auch niemand sehen.

  Lautlos robbte ich aus meiner Reihe hervor und schlüpfte dann rasch aus der Tür. Diesmal war ich schlauer und blockierte sie mit dem Keil, der davor lag, sodass sie einen kleinen Spalt offen blieb. Das Licht, das dadurch in den Vorraum fiel, war spärlich, aber es reichte, um die nach oben führende Treppe zu sehen. Eilig brachte ich die Stufen hinter mich und bog nach einer weiteren Tür in einen Flur ab, der Fenster hatte und ebenso prunkvoll und altmodisch ausgestattet war wie der Saal selbst. Wie im restlichen Theater gab es auch hier kein Anzeichen dafür, dass jemals Technologie eingesetzt worden war. Das Theater musste also schon lange vor der Abkehr davon nicht mehr genutzt worden sein. Vielleicht schon seit Anfang des 21. Jahrhunderts? Warum war es jetzt wohl der Treffpunkt für eine Gruppe von jungen Leuten, die irgendetwas Geheimnisvolles trieben?

  Ich konnte Stimmen summen hören, also war meine Idee nicht so schlecht gewesen. Mehrere schmale Durchgänge mit Vorhängen führten zu den Logen. Ich nahm die letzte und kroch unten durch, damit niemand sah, wie der Stoff zur Seite geschoben wurde. Sofort wurden die Stimmen lauter. Ich wagte mich nach vorne, immer noch geduckt.

  »Gestern haben sie den ältesten Sohn unserer Nachbarn geschnappt«, hörte ich ein Mädchen sagen. »Angeblich hat er etwas auf dem Schwarzmarkt oben in Kingston besorgt. Zwei Stunden später mussten seine Eltern alle Sachen packen und wurden abgeholt.«

  Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Ich kannte die Strafe für den Erwerb ode
r die Benutzung illegaler Technologie, wenn auch nicht aus nächster Nähe wie das Mädchen. Das Clearing war eine Prozedur, die einen wieder ungefährlich machte, was immer das bedeutete. Wie genau es funktionierte, wusste ich auch nicht. Ich wusste nur, dass die Leute danach samt ihren Familien von der Bildfläche verschwanden. Vielleicht mussten sie in irgendwelche Lager, wurden weggesperrt oder gefoltert. Dem König war alles zuzutrauen, wenn es darum ging, seine geliebte Abkehr durchzusetzen.

  »Wie kann man auch so doof sein, etwas in Kingston zu holen? Jeder weiß, dass es da vor Bluecoats nur so wimmelt.«

  Neugierig hob ich den Kopf über die Brüstung, um zu erkennen, wer da sprach. Vielleicht war ich auch auf der Suche nach jemand bestimmtem. Nach dem Jungen von letzter Woche. Dem hübschesten Jungen, den ich je gesehen hatte, mit seinen braunen Haaren und den dunklen Augen, die mich an dem Tag am Pier fragend angesehen hatten – bevor ich mich umgedreht hatte und abgehauen war. Bisher hatte ich kein Wort mit ihm gesprochen, aber ich hatte gehofft, er würde auch hier sein. Leider konnte ich ihn nirgendwo in der Gruppe entdecken. Gehörte er vielleicht gar nicht dazu?

  Auf der Bühne wurde gemurmelt und diskutiert, dann klatschte jemand in die Hände.

  »So, es wird Zeit für die Probe. Einmal Shakespeare für alle, wenn ich bitten darf. Legen wir los.«

  Die Gruppe erhob sich nach und nach, um dann hinter einer Tür an der Rückseite der Bühne zu verschwinden. Enttäuscht richtete ich mich auf. Was sollte ich denn mit diesen dürftigen Informationen anfangen?

  »Kann ich dir helfen?«

  Ich fuhr so schnell herum, dass ich fast das Gleichgewicht verlor. Zum Glück nur fast. Bei einem Sturz über die Balustrade hätte ich mir sicher das Genick gebrochen.

  Erschrocken starrte ich den Mann vor mir an. Meine zitternden Hände krallten sich um das Geländer hinter meinem Rücken.

  »Ich … äh …«

  »Ja?« Der Mann war riesig groß und sah ein bisschen aus wie ein Wikinger – mit der tiefen Stimme und den blonden Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Sein strenger Blick löschte alle sinnvollen Sätze aus meinem Kopf, Angst trieb meinen Puls fast durch das Kuppeldach des Theaters. Meine Fäuste ballten sich von selbst, was lächerlich war. Ich hätte keine Chance gegen ihn, ich wusste ja nicht einmal, wie man kämpfte. Konnte ich abhauen? Der Typ war hundert Mal stärker als ich, aber ich war kleiner und wahrscheinlich flinker. Und er stand nicht vor dem Durchgang.

  »Du kannst gehen, wenn du willst«, sagte er da. »Ich halte dich nicht auf.«

  Überrascht starrte ich ihn an. »Im Ernst?« In meinem Kopf hatten sich schon Bilder eines brutalen Verhörs breitgemacht, mit Fesseln und Elektroschocks. Dass er jetzt sagte, ich könne gehen, brachte mich völlig aus dem Konzept.

  »Im Ernst.« Der Wikinger lächelte. »Ich habe es aufgegeben, ungebetene Besucher zu beseitigen. Das provoziert immer so lästige Nachfragen.«

  Ich schluckte. Er merkte es.

  »Nur ein Witz«, beruhigte er mich. »Willst du mir jetzt sagen, was du hier machst – oder nicht? Du hast sicher mitbekommen, dass man da drinnen auf mich wartet.« Er deutete in Richtung der Tür, hinter der die Gruppe verschwunden war.

  Mir dämmerte, warum er so entspannt war: weil ich rein gar nichts gehört hatte, das mir verriet, was sie hier trieben. Alles wirklich Interessante schien hinter der Tür auf der Bühne stattzufinden. Und dorthin schaffte ich es nicht, wenn ich jetzt verschwand. Ich hob das Kinn.

  »Ich bin gekommen, weil ich wissen wollte, was ihr hier im Theater macht.«

  Der Wikinger zuckte mit den Schultern. »Was man als Theatergruppe eben so macht: Wir proben und führen dann irgendwann etwas auf.«

  »Das glaube ich nicht«, sagte ich mutig. Erst jetzt fiel mir auf, dass er es gewesen sein musste, den ich unten im Saal gehört hatte.

  Er wurde aufmerksamer. »Und warum glaubst du das nicht?«

  »Ich … ich habe vor ein paar Tagen am Pier aufgeschnappt, dass jemand aus der Gruppe gesagt hat, die Abkehr wäre eine riesige Katastrophe.« Ich zögerte, noch mehr zu sagen. Aber dann fasste ich mir ein Herz. »Ich bin seiner Meinung. Und ich wollte wissen, ob ihr alle so denkt.« Schließlich gab es Gerüchte über Leute, die gegen die Abkehr waren und sich deswegen organisierten.

  Jetzt wandelte sich der Gesichtsausdruck des Wikingers von amüsierter Neugier zu ernsthaftem Interesse. »Wie heißt du?«, fragte er mich.

  Diesmal zögerte ich keine Sekunde. »Ophelia.«

  »Ophelia? Ophelia Scale?« Er hob eine Augenbraue. Ich war baff. Warum kannte er meinen Nachnamen? Den hatte ich schließlich mit voller Absicht weggelassen. Ich wollte nicht, dass mein Dad Ärger bekam.

  Trotzdem nickte ich. »Woher wissen Sie das?«

  Der Wikinger verzog das Gesicht, als hätte er große Schmerzen. »Sie? Für wie alt hältst du mich denn?« Er ließ mich nicht antworten. »Ich bin Julius. Und jung genug, dass du mich duzen kannst.«

  Ich überlegte, wie alt er wohl sein mochte. Bestimmt 25 oder so. Uralt. Ich räusperte mich. Besser, ich verschwieg das.

  »Okay. Woher weißt du meinen Nachnamen?«

  Er schien darüber nachzudenken, ob er mir das verraten wollte. Dann sah er mich ernst an. »Ich werde jetzt für fünf Minuten verschwinden und Bescheid geben, dass die Probe etwas später beginnt. Wenn du danach noch hier bist, unterhalten wir uns. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Allerdings muss ich dich darum bitten, in Zukunft nicht mehr heimlich hier herumzuschleichen und uns zu belauschen.« Ohne auf eine Antwort zu warten – das schien sein Ding zu sein –, verschwand er hinter dem Vorhang. Ich dachte nur etwa eine Sekunde darüber nach zu gehen und das alles zu vergessen. Dann setzte ich mich auf den gepolsterten Sessel, der direkt vor mir stand. Mit den Fingern strich ich immer wieder über die samtige Armlehne. Hin über den weichen Stoff, zurück gegen den rauen Strich. Irgendwie beruhigte mich das.

  Es dauerte keine fünf Minuten, bis Julius zurück war.

  »Gut, Ophelia. Ich werde dir ein paar Fragen stellen. Du musst sie nicht beantworten, wenn du nicht willst. Aber wenn du antwortest, dann solltest du die Wahrheit sagen. Einverstanden?«

  Ich nickte.

  »Wie lange bist du schon in Brighton?«

  »Seit drei Monaten.«

  »Bist du mit deiner Familie hergekommen?«

  »Ja … nein. Nicht mit der ganzen. Nur mein Dad und mein Bruder sind hier.«

  »Wer ist dein Vater? Was hat er vor der Abkehr gemacht?«

  Ich stockte, und wieder schien Julius mir meine Gedanken vom Gesicht abzulesen. »Ihm droht kein Ärger, wenn du es erzählst, versprochen. Ich bin der letzte Mensch, der jemanden an die Bluecoats verpfeift.«

  Vielleicht war ich dumm oder naiv, ihm das einfach so zu glauben, aber ich tat es. »Mein Vater ist Andrew Scale. Er war Ingenieur für medizinische Technologie bei MedSol.«

  »Und jetzt?«

  »Wie, und jetzt?« Ich sah ihn fragend an.

  »Was macht er jetzt?«

  »Gar nichts. Er kocht, er liest, er … macht gar nichts.« Ich spürte, wie das Gefühl von Verrat sich in meinem Magen staute. Mein Vater war früher der wichtigste Mensch für mich gewesen, er hatte mir alles beigebracht, was ich über Technologie und ihre Entwicklung wusste. Aber jetzt war er ein Fremder – weil er sich mit der Abkehr abgefunden hatte.

  »Das scheint dich wütend zu machen«, bemerkte Julius und zeigte auf meine Hände, die ich beim Sprechen zu steinharten Fäuste geballt hatte. Schnell lockerte ich sie.

  »Nicht er macht mich wütend. Sondern Leopold de Marais.« Schließlich war das alles sein Werk.

  »Und warum ist das so?«

  Was sind denn das für Fragen? Will der Kerl mich therapieren? Genervt stieß ich die Luft aus.

  »Er hat mir alles weggenommen, das mir etwas bedeutet hat. Mein ganzes Leben ist ein großer Haufen Mist, und das ist allein seine Schuld! Wie soll ich nicht wütend auf ihn sein?« Ich stockte, erschrocken über meinen eigenen Ausbruch. Es war extrem ge
fährlich, so etwas vor einem Menschen zu äußern, den ich kaum kannte. Aber irgendetwas sagte mir, dass Julius es verstand. »Ich will, dass es wieder so wird wie früher«, sagte ich leise. »Wie vor der Abkehr.«

  Julius musterte mich lange aus seinen blauen Augen, als wollte er mich analysieren. Vielleicht tat er das sogar. Ich ließ ihn gewähren und wartete, bis er wieder etwas sagte.

  »Was hast du morgen Nachmittag vor, Ophelia?«

  »Morgen? Äh … noch nichts.« Was sollte ich in dieser leeren Welt auch schon vorhaben?

  Julius stand auf. »Schaffst du es, um vier Uhr hier zu sein?«

  Meinte er das ernst? Lud er mich gerade zu einem ihrer Treffen ein?

  »Klar!«, rief ich, vielleicht etwas zu begeistert.

  »Gut.« Er lächelte. »Dann sehen wir uns morgen. Bring am besten Sportsachen mit. Und jetzt komm, ich zeige dir, wo du rauskommst, ohne dir im Dunkeln den Hals zu brechen.«

  Ich schaute nur ein bisschen schuldbewusst drein, als er mich mit einem wissenden und etwas tadelnden Blick bedachte, denn mein hüpfendes Herz ließ keine Reue zu. Ich darf zu einem dieser geheimnisvollen Treffen!

  Nur noch knapp 24 Stunden und ich würde wissen, was Julius und die anderen hier machten. Noch knapp 24 Stunden, bis meine Welt vielleicht etwas weniger leer sein würde.

  NEUE FREUNDE?

  24 Stunden können eine sehr lange Zeit sein, wenn man auf etwas wartet.

  Das erfuhr ich gerade am eigenen Leib. Schon in der Schule war ich total hibbelig gewesen, und beim Mittagessen mit meiner Familie brachte ich kaum einen Bissen herunter. Als ich endlich die Wohnung verlassen konnte, war ich unheimlich erleichtert. Vor allem, weil es mir gelungen war, mich hinauszuschleichen, ohne dass mein Bruder oder mein Vater hatten fragen können, wohin ich ging.

  Wenn ich vorgegeben hätte, mich mit Leuten von einer Theatergruppe zu treffen, hätte ich garantiert nur irritierte Blicke geerntet. Schließlich hatte ich das Haus außer für die Schule in den letzten zwei Jahren nicht besonders oft verlassen. Das erste Jahr hatte ich die meiste Zeit in einem abgedunkelten Raum verbracht, bis meine Mutter endlich das HeadLock entwickelt hatte. Und im Jahr danach hatte es einfach keinen Grund gegeben, rauszugehen. Anders als mein Bruder Eneas freundete ich mich nicht leicht mit Menschen an – und seit ich dank des dämpfenden Medikaments ihre Reaktionen nicht mehr so gut durchschauen konnte wie früher, hielt ich mich lieber von ihnen fern.