[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 7
Plötzlich flog hinter mir die Tür mit einem Krachen auf. Ich sprang erschrocken von meinem Platz hoch und drehte mich um. Ein Mann schritt herein, groß, mit eleganter Kleidung und durchdringenden grauen Augen. Er kam direkt auf mich zu.
»Warum, Ophelia?«
Er packte mich an den Schultern und sah mich an. Auf seinem weißen Hemd breitete sich mit rasender Geschwindigkeit ein dunkler Fleck aus. Blut.
»Warum?«, wiederholte er panisch. Dabei ging er fast in die Knie.
»Ich war das nicht«, stammelte ich und versuchte, ihn auf den Beinen zu halten. Der Stoff des Hemdes war nass vor Blut. »Ich weiß nicht, wie …«
»Sag es mir.« Die Stimme wurde sanfter, flehend. Die schwarzen Pupillen fraßen das Grau seiner Augen langsam auf. »Ich will es verstehen. Ophelia, bitte …«
Etwas in seiner Stimme berührte mich, aber ich hatte keine Antwort für ihn. Also wollte ich nach Hilfe rufen, die Hand auf die Wunde drücken, irgendetwas tun. Aber er entglitt mir und stürzte zu Boden. Rasselnd holte er ein letztes Mal Atem. Dann verdrehten sich seine Augen und er wurde starr.
Plötzlich kam Leben in den Raum. Die Leute standen auf und traten näher. Ich wusste, was sie sahen: den Toten auf dem Boden und mich daneben, mit Blut an den Händen und ohne einen Schimmer, was passiert sein mochte. Ich war starr vor Schock, unfähig, mich zu bewegen.
»Sie hat den König getötet!«, rief ein blondes Mädchen.
»Mörderin!« Es war ausgerechnet Jye, der das Wort rief. Es flog sofort wie ein Echo im Raum umher. Mörderin, Mörderin, Mörderin!
»Nein!«, schrie ich. Ich wich vor der Meute zurück. »Ich habe nichts getan!«
»Das ist eine Lüge!« Sie sprachen alle mit einer Stimme, dunkel und unheimlich.
»Es ist die Wahrheit!«, hielt ich dagegen.
»Warum hast du dann das da?« Liora zeigte auf mich.
Ich sah an mir herunter und keuchte entsetzt auf. Meine Hand, die gerade noch leer gewesen war, hielt jetzt eine Waffe.
Ich schreckte hoch und riss die Augen auf. Es dauerte einen Moment, aber dann stöhnte ich vor Erleichterung. Ich war in meinem Zimmer. Da waren mein Schreibtisch, mein blauer Teppich, das abgewetzte Sofa neben der Tür. Es war nur ein Traum gewesen. Der Test lag drei Wochen zurück.
Mein Atem beruhigte sich, aber mein Herz hämmerte weiterhin gegen die Rippen. Ich schlug die Decke zurück, stand auf und ging zum Fenster.
Es war so echt gewesen. Ich hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass der König in den Prüfungsraum gestürmt war. Das Gefühl von teurem Stoff unter meinen Fingern war noch da, so wie alles andere. Sein Blick, das Flehen in seiner Stimme … mir lief ein Schauer über den Rücken. Kurzerhand öffnete ich das Fenster, um die Geister zu vertreiben.
Draußen regnete es Bindfäden und ein paar Tropfen erreichten mein Gesicht. Ich sog die frische Luft ein – und kam mir bald lächerlich vor. In dem Traum war es mir gelungen, den König zu töten. Hätte mich das nicht freuen müssen, statt mich zu schockieren?
Du bist immer noch ein Mensch, sagte Knox’ Stimme leise in meinem Kopf. Der Tod des Königs ist eine Notwendigkeit, kein persönliches Vergnügen.
Ich atmete noch einmal tief ein. Er hatte recht.
Mein Kopf schmerzte auf vertraute Weise, also ging ich zu meinem Nachttisch und nahm einen schmalen Edelstahlzylinder heraus. Ein Ende hielt ich an meinen Hals, dann drückte ich den Knopf auf der anderen Seite. Es zischte leise, als die Dosis in meine Adern gepresst wurde.
Binnen Sekunden änderte sich die Welt. Sie wurde dumpfer und eindimensionaler, als ob sich eine dicke, durchsichtige Folie über die Wirklichkeit zog. Mein Kopf nahm die Entspannung dankend an, aber ich spürte vor allem Resignation. Das Leben in der Folien-Welt war etwas, an das ich mich nie ganz gewöhnen würde.
Ich legte den SubDerm-Injektor zurück in die Schublade und schloss sie. Der Wecker auf dem Tischchen zeigte zehn Uhr an. Ich war spät dran mit der Einnahme. Vielleicht hatte ich deswegen diesen Traum gehabt.
Eneas saß allein am Esstisch, als ich nach der Dusche hinunterging. Er hatte einen Block neben sich liegen und skizzierte etwas. Als ich zu ihm kam, sah er auf.
»Gut geschlafen, Schwesterchen?«
»Eher nicht, nein.«
»Das sieht man«, kommentierte er trocken.
»Es ist so schade, dass ich den ganzen Charme geerbt habe, findest du nicht?« Im Vorbeigehen wuschelte ich ihm durch die Haare. Dann öffnete ich den Schrank und suchte nach meinen synthetischen Frühstücksflakes. Vor Lexie musste man so etwas besser verstecken als Technologie vor den Turncoats. Wenn man es nicht tat, warf sie die Flakes in den Müll und ersetzte sie durch Chia-Samen und Haferflocken. Mir kam es schon hoch, wenn ich nur daran dachte.
»Gib dir keine Mühe.« Mein Bruder kam zur Küchenzeile. »Fleur hat sie heute Morgen mitgenommen.«
Ich fuhr empört hoch. »Meine Flakes? Spinnt die?«
»Sie wird erwachsen, Phee. Da entwickelt man eine eigene Persönlichkeit.«
»Das ist ja schön, aber muss sie deswegen auch einen eigenen Geschmack entwickeln?«, maulte ich. Jetzt konnte ich hungern oder musste aus dem Haus, um mir etwas zu besorgen.
»Hier«, Eneas griff hinter Lexies Phobe-Mischungen. »Du kannst mein Müsli nehmen.«
»Du bist meine Rettung, Brüderchen.« Ich nahm die Packung entgegen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich wusste gar nicht, dass du Geheimvorräte hast.«
»Dann wären sie ja auch nicht mehr geheim.« Eneas grinste. »Allerdings hättest du dir denken können, dass ich mich nicht von Lexies Kram ernähre. Das Zeug ist die reinste Folter.«
»Was ist Folter?« Lexie kam durch die Terrassentür.
»Ach, dieser Bewerbungskram«, sagte ich schnell und versteckte die Müslipackung hinter meinem Rücken. Es war überflüssig, denn Lexie war damit beschäftigt, ihre Gummistiefel von den Füßen zu schütteln. Einer flog zwei Meter weit in den Matsch. Sie hüpfte auf einem Bein hinaus, um ihn zurückzuholen.
»Morgen ist das Treffen wegen der Planung für den großen Gemüsegarten.« Sie war schon beim nächsten Thema, als sie wieder hereinkam. Den Stiefel hielt sie in der Hand. Schlamm tropfte auf den Boden. »Es wäre nett, wenn ihr bis dahin aufräumen könntet.«
Ein Klopfen rettete Eneas und mich davor, antworten zu müssen.
»Ah, das wird Scotty sein.« Meine Stiefmutter eilte zur Tür.
»Müssen wir nun aufräumen oder nicht?«, raunte mein Bruder mir zu.
»Wir könnten so tun, als hätten wir es nicht gehört«, schlug ich vor.
»Phee, es ist für dich«, unterbrach uns Lexie quer durch den Raum. »Ich bin jetzt mal bei Scotty, bestimmt hat er verschlafen. Einmal mit Profis …« Sie winkte, zog sich etwas über und war verschwunden.
Ich hatte heute auf meinen Morgenmantel verzichtet und mir gleich einen dunkelgrauen Kapuzenpullover und eine schwarze Hose angezogen. Prüfend warf ich einen Blick auf mein Outfit und entschied, dass es präsentabel war. Ich stellte mein Müsli ab und ging zur Tür. Auf den nassen Stufen warteten Julius und Jye.
»Hi«, sagte ich überrascht. Meine Freunde besuchten mich wegen der Phobe-Plage nur selten zu Hause. Ich warf einen Blick über die Schulter, wo Eneas wieder am Esstisch saß. Dann trat ich nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. »Mein Bruder ist da.«
Die beiden nickten, und wir gingen einige Meter unter ein Vordach, das wir mit einer Schubkarre und zwei Regenfässern teilen mussten. Jye schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. Julius holte ein Pad hervor.
»Sind das …?«
»Die Ergebnisse, ja.«
»Ich dachte, die sollten erst in einer Woche kommen?« Sofort meldete sich ein Grummeln in meinem Magen. War es Zufall, dass ich ausgerechnet heute Nacht von dem Test geträumt hatte?
»Man hat den Zeitplan nach vorne verlegt. Die nächste Runde in London startet schon morgen.« Julius lehnte sich an einen Pfeiler. Das Holz ächzte bedenklich. »Sie haben euch beide dafür ausgewählt«, sagte er.
Freude war das erste Gefühl, das ich spürte. Aber dann mischte sich etwas anderes hinein … Angst. Schoc
k. Die grauen Augen, die mich verzweifelt ansahen und sich dann nach oben verdrehten. Das Blut auf dem weißen Hemd.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Jye berührte mich an der Schulter. »Du bist ein bisschen blass.«
»Was, ich?« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Nee. Alles bestens. Bin nur überrascht. Zweite Runde in London, wow. Wer hätte das gedacht?« Es klang lahm. Die Bilder des sterbenden Königs ließen sich kaum vertreiben, aber noch weniger seine Stimme. Der sonore Klang hallte durch meinen Kopf.
Warum, Ophelia?
Ich will es verstehen.
Mühsam verdrängte ich die Stimme aus meinen Gedanken.
»Wer noch?«, fragte ich.
»Niemand«, sagte Jye. »Wir sind die Einzigen aus Brighton, die genommen wurden.«
»Nur wir?«, fragte ich ungläubig. Bei dem Test waren über hundert Leute aus der Gegend angetreten.
»Nur ihr«, wiederholte Julius. »Der König sucht keine Armee, sondern eine Elitegarde. Deswegen legt er hohe Maßstäbe an.«
Das ungute Gefühl in meinem Magen wurde stärker. Jye schien es zu spüren.
»Vergiss nicht, dass sie nur einen Bruchteil der Anwärter dieser Runde überhaupt nehmen«, beruhigte er mich. »Wahrscheinlich schaffen wir es eh nicht.«
»Ja, du hast recht«, sagte ich, »einen Test auszufüllen ist eine Sache, aber London? Ich wette, das wird ein kurzer Ausflug.« Mein Bauchgefühl sagte etwas anderes.
»Eines ist sehr wichtig.« Julius sah uns an. Der Regen trommelte auf das Blech des Daches. »Bevor ihr auffliegt, brecht ab. Wenn ihr merkt, dass ihr euch in Gefahr bringt, gebt auf. Wir können uns keine weiteren umfassenden Clearings leisten.«
»Aber was, wenn es funktioniert?«, fragte ich. »Was, wenn wir es doch schaffen?« Darüber hatte bisher niemand ein Wort verloren.
»Ferro wird mit euch Kontakt aufnehmen, wenn es so weit ist.« Julius schob das Pad in seine Tasche. »Genaueres weiß ich auch nicht. Wenn es um die Details seiner Pläne geht, ist Ferro ähnlich verschwiegen wie der König.«
Mein Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Auf dem Bett lag Alltagskleidung, auf dem Sofa Sportsachen, Unterwäsche und Socken. Der Schreibtisch diente als Zwischenlager für Kleinkram, auf dem Teppich stapelten sich Bücher.
Julius hatte uns gesagt, dass wir nicht viel mitnehmen sollten – Sportklamotten, normale Kleidung, etwas für die Wartezeiten. Was die Menge anging, hatte er recht. Aber nach dem Aufenthalt in London ging es vielleicht weiter nach Maraisville, in die königliche Stadt südlich der Alpen, nahe der nicht mehr existenten Grenze zwischen den ehemaligen Staatsgebieten Italiens und der Schweiz. Also musste ich sorgfältig auswählen.
In die Reisetasche, ein unförmiges Ding mit Lilie, wanderten nach und nach ein paar T-Shirts, die Jacke von Knox, meine zwei Lieblingspullover und ein paar ungelesene Bücher. Gerade dachte ich darüber nach, ob man uns im Winter warme Kleidung stellen würde, als die Tür aufging.
»Bist du eigentlich total bescheuert?!« Eneas stürmte ins Zimmer.
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, gab ich unbeeindruckt zurück.
»Ach nein? Lexie hat mir gerade gesagt, dass du nach London fährst. Glaubst du, ich bin ein Idiot? Denkst du, ich weiß nicht, was du vorhast?«
Ich setzte mich aufs Bett. »Klär mich auf, Neas. Was habe ich denn vor?« Ich hatte meiner Familie schon vor dem ersten Test erzählt, dass ich mich für die königliche Garde bewerben wollte.
»Du willst …« Er senkte seine Stimme. »Du willst etwas gegen den König unternehmen. Du willst dich dort einschleusen, auf eine gute Gelegenheit warten und dann …« Er fuhr sich mit dem Finger über den Hals.
»Was für ein Quatsch«, wehrte ich ab. »Ich brauche einen Job, und das ist ein Job. Nicht jeder von uns will nackte Mädels zeichnen.«
Eneas funkelte mich aus seinen grünen Augen an. »Verkauf mich nicht für dumm, Ophelia. Dad kannst du vielleicht erzählen, dass du bei einer Theatergruppe bist, aber mir nicht!«
Ich verschränkte die Arme. »Was weißt du denn schon davon?«
»Genug. Ich weiß, dass ihr gegen die Abkehr seid. Und dass ihr alles tut, um sie rückgängig zu machen.« Mein Bruder starrte mich wütend an. »Verdammt, Phee. Das ist eine Selbstmordmission!«
»Und wenn schon.«
»Und wenn schon? Hast du sie noch alle? Mal abgesehen von deinem Leben, das du riskierst, hast du auch mal an uns gedacht? Was mit uns passiert, wenn du auffliegst?«
»Ich fliege aber nicht auf. Ich bin gut in dem, was ich tue.«
»Gut in dem, was du tust? Hörst du dich eigentlich selbst reden?« Eneas starrte mich an. »Du bist keine Killerin oder Spionin! Was soll ich Dad sagen, wenn dir etwas passiert? Oder Mum?«
»Gar nichts.« Ich presste die Lippen aufeinander. »Mum wird so etwas erwartet haben und Dad … er kann mir ja einen hübschen Grabstein töpfern.«
Eneas schnaubte. »Du bist schrecklich verbittert geworden.«
»Und du bist schrecklich blind!« Ich stand auf. »Ich kann in dieser Welt nicht leben, okay? Ich kann mich diesem Regime nicht unterordnen! Ich will kein sinnloses Leben führen! Aber vor allem kann ich sie nicht damit davonkommen lassen, was sie mit uns machen, was sie Knox angetan haben. Sonst werde ich wahnsinnig!«
Eneas atmete aus und sank dann auf mein Bett. Plötzlich sah er sehr erwachsen aus. Und besorgt.
»Ich habe Angst um dich«, sagte er leise. »Ich weiß, dass die Sache mit Knox schlimm für dich war. Aber –«
»Genau deswegen muss ich etwas tun.« Seine Sorge nahm mir meine Wut. Ich setzte mich neben ihn. »Und ich will meine Freiheit zurückhaben, meinen Kopf und meine Gedanken. Mein Leben. Unser aller Leben.«
Er seufzte tief. »Ich hoffe nur, du verlierst deines dabei nicht.«
Einige Momente saßen wir schweigend da. Draußen prasselte der Regen an die Scheibe. Irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus.
»Egal, was passiert – bitte sag Dad nichts, okay?« Mein Vater würde das nicht gut verkraften.
Eneas nickte und gab nach.
»Okay. Unter einer Bedingung.«
»Die wäre?«
»Du kommst heil zu uns zurück.«
»Versprochen.« Ich lächelte und umarmte ihn fest.
Das mit dem Lügen konnte ich wirklich verdammt gut.
Nachdem Eneas gegangen war, beendete ich das Packen meiner Sachen und räumte alles andere zurück in die Schränke. Die Worte meines Bruders ließen sich jedoch nicht so leicht verstauen. Hast du auch mal an uns gedacht? Was mit uns passiert, wenn du auffliegst?
Ich wusste nicht, was sie dann erwartete. Ich wusste ja nicht einmal, was mich dann erwartete. Nur Clearing oder doch Schlimmeres? Gab es etwas Schlimmeres als das?
Noch konnte ich aussteigen. Niemand würde von mir enttäuscht sein, wenn ich nicht nach London fuhr. Aber spätestens seit Knox’ Clearing wusste ich ganz genau, warum ich bei ReVerse war – das konnten mein Bruder und der Albtraum von einem toten König nicht ändern. Wenn es möglich war, würde ich bis zum Äußersten gehen. Das war ich meinen Mitstreitern, Knox und zuletzt mir selbst schuldig.
Der Verschluss der Reisetasche klemmte, aber mit etwas Gewalt ging er zu. Ich ließ die Tasche stehen, öffnete eine Tür hinter meinem Bett und beugte mich in den Abstellraum dahinter. In einer staubigen Kiste fand ich ein altes Buch. Es war in dunkelrotes Leder eingeschlagen und hatte goldene Buchstaben auf dem Einband. Ich hatte es aufbewahrt, falls eines Tages die Gelegenheit kam, es zurückzugeben. Heute war es so weit.
Bevor ich nach London aufbrechen konnte, hatte ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Nach einer halben Stunde Fahrt mit der TransUnit erreichte ich mein Ziel. Horsham war eine kleine Stadt im Landesinneren und nie bedeutend genug gewesen, um einen anderen Namen zu bekommen. Firmen hatten sich hier nicht angesiedelt, deshalb war es ein echter Magnet für Phobes und andere Königstreue. Schon das Ortseingangsschild war mit einer riesigen Lilie und dem Konterfei von Leopold de Marais versehen, darunter hieß die Stadt »Alle Freunde seiner Majestät« willkommen. Ich hätte gern etwas
danach geworfen, aber natürlich ging das nicht. Also blieb es bei einem bösen Blick, bevor ich in die nächste Seitenstraße einbog.
Eine Reihe Häuser erstreckte sich vor mir, ordentlich und gepflegt, aber dennoch deprimierend eintönig. Graue Fassaden, graue Treppen, graue Steinplatten vor den Häusern. Im Vorbeigehen sah ich ein paar spielende Kinder und einen Mann, der den Gehsteig fegte. Keiner beachtete mich. Die Leute in dieser Ecke von Horsham wollten mit niemandem reden. Ich nahm ihnen das nicht übel.
Mein Ziel lag ganz am Ende der Straße. Neben einer grauen Holzbank stoppte ich und ging die Stufen zur Haustür hinauf. Nach meinem Klopfen dauerte es nicht lange, bis jemand öffnete.
»Ophelia, hallo. Mit dir hatte ich heute nicht gerechnet.« Eine kleine Frau stand in der Tür, dunkel gekleidet und mit grauen Strähnen in den schwarzen Haaren. Ihre braunen Augen hatten einen traurigen Ausdruck, aber das lag nicht an mir.
»Hallo, Eva. Ich komme unangemeldet, ich weiß.« Ich lächelte entschuldigend. Normalerweise schickte ich eine Woche vorher einen Brief. »Es hat sich kurzfristig etwas ergeben. Aber wenn ich störe …«
»Du störst niemals, das weißt du doch.« Eva trat zur Seite und ließ mich hinein.
Der Eingang des kleinen Hauses war schmal und dunkel. Eine steile Treppe schwang sich zum oberen Stockwerk hoch, am Geländer hingen ordentlich aufgereiht Mäntel und Jacken. Auf der Kommode entdeckte ich einen Stapel Bücher. Ich dachte an das Mitbringsel in meiner Tasche.
»Trinkst du einen Tee mit mir?« Ein hoffnungsvoller Ausdruck stahl sich auf Evas müdes Gesicht.
»Ich habe leider nur wenig Zeit. Um sechs geht mein TransRail nach London.«
»Nach London? Was hast du denn dort zu tun?« Sie nahm mir meine Jacke ab. Ich sah, wie sie über den Stoff strich. Mein Herz schmerzte dumpf.
»Das ist nur so eine Berufsberatungssache«, log ich und hoffte auf eine Gelegenheit zum Themenwechsel. Durch die offene Tür zum Wohnzimmer erhaschte ich einen Blick auf eine altmodische Nähmaschine.
»Du nähst wieder?«
»Wir müssen alle weitermachen, nicht wahr?« Sie zeigte ein bekümmertes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln. Ich hatte seit Monaten keines von ihr gesehen.