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Die Sterne werden fallen Page 7


  »Du bist hier«, murmelte Lucien leise in meine Halsbeuge, als wolle er sich selbst davon überzeugen, indem er es aussprach.

  »Ich bin hier«, antwortete ich erstickt und drückte ihn noch einmal an mich, bevor ich mich widerwillig von ihm löste.

  Mehr als drei Monate war es her, dass ich Lucien zuletzt leibhaftig vor mir gesehen hatte. Mit Erleichterung bemerkte ich, dass er sich nicht viel verändert hatte. Sicherlich wirkte er älter, vor allem, weil er ein dunkles Hemd und keinen seiner farbenfrohen Kapuzenpullover trug. Auch waren seine Wangen etwas schmaler und die Augen nicht ganz so strahlend wie früher. Aber er war immer noch Lucien. Mein Lucien. Und ich war endlich wieder bei ihm.

  Er sah mich ebenso prüfend wie liebevoll an, dann strich er mir sanft über die Wange und zog mich an sich, um mich zu küssen. Es schien ihm egal zu sein, dass wir nicht allein auf dem Gang waren, denn er ließ mich erst wieder los, als sich jemand neben uns räusperte. Es war Imogen, die mich freundlich musterte.

  »Ophelia. Du bist in Sicherheit. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber es ist schön, dich zu sehen. Willkommen zurück in Maraisville.«

  »Hi, Imogen.« Ich lächelte. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber ich freue mich, wieder hier zu sein.«

  »Als Nicholas dich verraten hat, dachten wir schon, dir würde etwas zustoßen. Zum Glück ist nichts passiert.« Sie lächelte mir zu und sah dann Lucien an. »Wir müssen weitermachen, Luc. Die Delegation wird ungeduldig.«

  »Okay.« Er nickte – ein Nicken, das mich sehr an seinen verstorbenen Bruder erinnerte – und sah mich bedauernd an. »Es wird nicht ewig dauern, hoffe ich. Geh einfach hoch, bestell dir etwas zu essen, nimm ein Bad oder was immer du sonst bei ReVerse vermisst hast. Ich komme nach, so schnell ich kann.«

  Das, was ich am meisten vermisst habe, bist du. Aber das sagte ich nicht laut, nicht mit Imogen und Caspar in der Nähe. Also nickte ich, und er küsste mich noch einmal schnell, bevor er wieder hinter der weißen Tür verschwand.

  Dufort brachte mich zum nächsten Aufzug und übergab mich dort an einen der Bediensteten, die für das Juwel zuständig waren. Der junge Mann in weißer Uniform begleitete mich nach oben und wir schwiegen, bis der Lift hielt. Allerdings war es nicht der fünfte Stock, den ich erkannte, als die Türen sich öffneten. Es war irgendeine Etage darunter. Und vor mir stand eine dunkelhaarige Frau, bei der ich von der ersten Sekunde an wusste, dass ich sie nicht mochte.

  »Ophelia Scale?« Sie streckte resolut die Hand aus. »Mein Name ist Ilka Saric. Ich bin die neue Leiterin der Garde.«

  Ich hatte gewusst, dass es eine Nachfolgerin für Haslock gab, da der Gardechef wie Leopold, Phoenix und leider auch Henri Fiore bei dem Anschlag auf die FlightUnit ums Leben gekommen war. Aber ich hatte nie gefragt, wer es war und ob ich sie kannte. Offenbar war das nicht der Fall – ich erinnerte mich an niemanden ihres Namens. Eine normale Gardistin schien sie vor ihrer Beförderung also nicht gewesen zu sein, eine Schakalin auch nicht. Blieb nur das Militär, wenn ich mir ihre aufrechte Körperhaltung und den strengen Blick ansah. Ihre schwarzen Haare waren zu einem straffen Knoten geschlungen und ihre Uniform wirkte so glatt, als hätte sie darin noch nie gesessen.

  »Freut mich«, log ich und schüttelte ihre Hand. Ilka Saric zerquetschte mir fast die Finger, dabei war sie kleiner als ich und sah eigentlich recht zierlich aus.

  Die neue Gardechefin trat neben mir in den Aufzug und scheuchte den Bediensteten kurzerhand hinaus, als wäre er Ungeziefer, das sich in die Festung verirrt hatte. Mich sah sie nur wenig freundlicher an.

  »Wir müssen uns unterhalten, Agent Scale«, ließ sie mich wissen.

  Dann schlossen sich die Türen.

  7

  »Worüber müssen wir uns unterhalten?«, wagte ich zu fragen. Ein Fehler. Saric maß mich mit einem Blick, der deutlich machte, dass sie an meiner Intelligenz zweifelte.

  »Über Ihre Sicherheit natürlich. Sie sind ab heute nicht nur Mitglied der Schakale, sondern vor allem Teil des engsten Kreises um den König. Daher gibt es Vorgaben, die Sie zu beachten haben.«

  Ich räusperte mich. »Nichts gegen die Sicherheitsvorkehrungen, aber ich glaube, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Vor allem innerhalb dieser Stadt.« Die war schließlich hermetisch gegen Eindringlinge abgeriegelt.

  »Das ist ein Irrtum.« Saric ließ keinen Zweifel daran, dass sie hier den totalen Durchblick hatte.

  »Ich war die letzten Monate undercover bei einem ReVerse-Spezialteam, ich denke schon, dass ich –«

  »Hat man Sie nicht erst heute dort rausholen müssen?« Saric zeigte ein mitleidiges Lächeln. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir stehen zu Ihrem Schutz bereit – und das, obwohl Sie vor nicht allzu langer Zeit noch ein Feind des Königs waren. Wir bei der Garde sind bereit, über Ihre unschöne Vergangenheit hinwegzusehen.«

  Deutlicher hätte sie nicht machen können, dass sie mir das Attentat auf Leopold keinesfalls verzieh und Lucien wahrscheinlich für einen liebeskranken Idioten hielt, weil er trotzdem mit mir zusammen war. Ich fühlte mich plötzlich sehr unwohl. Hatte ich nicht genau deswegen entschieden, Lucien nicht nach Maraisville zu begleiten? Weil jeder hier in mir nur das Mädchen sehen würde, das Leopold hatte töten wollen?

  Ilka Saric war bereits dabei, die für mich geltenden Sicherheitsvorkehrungen zu erläutern. Ob ich dabei zuhörte oder nicht, schien ihr egal zu sein.

  »… ist es Ihnen ohne Begleitung nicht gestattet, die Stadt zu verlassen oder sich in die bewaldeten Gebiete zu begeben. Das Militärareal am See kann zu Trainingszwecken aufgesucht werden, allerdings nur nach vorheriger Anmeldung und in Anwesenheit anderer Schakale. Im Gegensatz zum König dürfen Sie die Festung jedoch jederzeit verlassen und –«

  »Moment mal«, unterbrach ich sie. »Lucien darf die Festung nicht verlassen?«

  »Zu seiner eigenen Sicherheit«, referierte Ilka Saric weiter, »ist es nicht ratsam, wenn er sich draußen herumtreibt.«

  Ich musste lachen. »Herumtreibt? Das klingt, als wäre er ein Streuner oder so etwas.«

  Die Gardechefin schien bei der Vergabe des Humor-Gens übergangen worden zu sein. »Nahor Haslock hat es mit Leopold de Marais ebenso gehandhabt. Und gerade in Zeiten wie diesen ist es kaum ratsam, von den Protokollen abzuweichen.«

  »Sicher.« Nur dass es für jemanden wie Lucien Folter war, sich nicht frei bewegen zu dürfen. Aber wahrscheinlich schlich er sich nachts raus, ohne dass es jemand mitbekam. Ich musste ihn später danach fragen.

  »Aufgrund Ihrer Ausbildung und der Tätigkeit bei den Schakalen dürfen Sie die Altstadt sowie die Wohngebiete allein aufsuchen, wenn Sie wollen.« Es klang so, als würde Saric mir das nicht empfehlen. »Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass Sie viele Ausflüge unternehmen möchten. Schließlich kennen Sie hier niemanden.«

  Mit jedem Satz und jedem schlecht versteckten Hinweis darauf, dass niemand mich in dieser Stadt wollte, mochte ich die Gardechefin weniger. Also ließ ich ihren Vortrag ohne Gegenwehr über mich ergehen, um ihr nicht noch zusätzliche Angriffsfläche zu bieten.

  Kurz darauf hielt der Lift und die Türen glitten auf. Wir betraten den fünften Stock mit seinen hellen Gängen und dem makellosen grauen Teppichboden. Der getrocknete Schneematsch an meinen Laufschuhen hinterließ braune Ränder darauf. Am liebsten hätte ich sie ausgezogen, damit niemand saubermachen musste, aber vor Saric wagte ich das nicht.

  »Wieso ist keiner hier?«, fragte ich. Als Lucien mich noch regelmäßig ins Juwel geschmuggelt hatte, waren immer Gardisten auf dem Stockwerk gewesen, die für Sicherheit sorgten. Aber jetzt sah ich niemanden, Ilka Saric war die einzige Gardistin hier auf der Etage. Sie verzog unzufrieden den Mund.

  »Der König hat die Präsenz der Garde im Wohnbereich verringert. Ebenso wie Sie ist er der Ansicht, dass seine Ausbildung als Schakal ausreichend sei, um sich gegen einen Angriff zu schützen. Außerdem wünscht er mehr Privatsphäre, zumindest waren das so ungefähr seine Worte.«

  So ungefähr. Ich unterdrückte e
in Lächeln, denn ich wettete, dass Luciens Worte weniger nach offiziellem Statement geklungen hatten und mehr nach einer ordentlichen Tirade. Aber ich war dankbar dafür, dass er sich durchgesetzt hatte. Je weniger Gardisten in der Nähe waren, desto wohler fühlte ich mich. Seit ich zwei von ihnen bei dem Attentatsversuch auf Leopold niedergeschlagen hatte, waren sie nicht gerade Fans von mir.

  Die große Doppeltür von Luciens Räumen kam näher, der junge Bedienstete wartete davor. Saric blieb stehen, außer Hörweite von ihm.

  »Es wäre sehr nett, wenn Sie dem König klarmachen könnten, dass der Turm ebenso tabu ist wie das Dach des Juwels.« Sie sah mich streng an, ließ es jedoch wenigstens halbwegs wie eine Bitte klingen.

  »Man kann aufs Dach?«, fragte ich interessiert. Diese kleine Provokation konnte ich mir nicht verkneifen.

  Sie antwortete nicht, sondern schüttelte den Kopf wie eine Mutter, der soeben klargeworden ist, dass alle Mahnungen sinnlos sind.

  »Wir werden uns in den nächsten Tagen erneut unterhalten, Ophelia. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Sie nickte mir zu, dann verschwand sie mit kräftigen Schritten in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

  »Ich kann es kaum erwarten«, murmelte ich. Für einen Moment sah ich ihr nach, dann ging ich die letzten Meter bis zu Luciens Tür. Der Bedienstete verneigte sich leicht. Ich bemühte mich, nicht irritiert zu wirken. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte ich mit den Dienern nichts zu tun gehabt, denn Lucien hatte unser Essen meist direkt aus der Küche geholt. Er hatte einmal gesagt, er wolle sich, obwohl er aus einem wohlhabenden Elternhaus stammte, nicht bedienen lassen. Hatte sich das etwa geändert?

  »Kann ich Ihnen etwas bringen?« Der junge Bedienstete sah mich mit diesem neutralen Blick an, den die Diener im Juwel alle perfektioniert hatten. Warum lächelte eigentlich nie einer von ihnen? Das wäre viel angenehmer gewesen.

  »Etwas zu essen wäre toll.«

  »Was wünschen Sie genau?«, fragte er.

  »Oh, ich nehme irgendetwas, das da ist. Keine Umstände. Alles ist besser als das, was ich in den letzten Monaten hatte.« Ich lächelte. Einen Versuch war es wert.

  »Es macht keine Umstände, Ihnen etwas zuzubereiten, Miss.« Kein Lächeln.

  Ich hätte beinahe den Kopf geschüttelt bei dieser unvertrauten Anrede. »Ähm, okay. Dann hätte ich gerne …« Ich wollte schon einen Burger ordern, aber den hob ich mir lieber für später auf, wenn ich mit Lucien zusammen essen konnte. »Vielleicht irgendwas mit synthetischem Hühnchen?« Sogar das hatte ich ein bisschen vermisst.

  »Sehr gern.« Er nickte mir zu und ging los, um meine Bestellung zu überbringen.

  Ich holte Luft und drückte dann einen der Türflügel zu Luciens Räumen auf. Fünf Schritte durch den Eingangsbereich, dann war ich an dem Ort angekommen, den ich im vergangenen Jahr noch am ehesten als Zuhause bezeichnet hätte.

  Auf den ersten Blick schien sich nicht viel verändert zu haben – das riesige Sofa gab es immer noch, genau wie die anderen Möbel, die passenden Teppiche und Vorhänge. Allerdings wirkte nun alles viel bewohnter. Früher war Lucien so selten hier gewesen, dass seine Räume ausgesehen hatten wie in einem Hotel. Nun lebte er tatsächlich hier und das merkte man auch, ob an den Büchern auf dem Sofa oder den Bildern an der Wand. Die waren neu und zeigten offenbar Orte, die Lucien etwas bedeuteten. Ich sah eine hohe Steilwand in einem Bergmassiv und auf einem anderen Bild ein kleines Haus am Meer mit grauen Fensterläden. Ich spürte ein warmes Gefühl in meinem Innern, als ich auch das Castello erkannte – den Ort, wo Lucien und ich uns das erste Mal begegnet waren. Wir hatten zwar auch in dem Haus an der iberopäischen Küste übernachtet, aber ich war sicher, dass er das eher mit seiner Mutter verband. Das Castello allerdings gehörte nur uns. Ihm sogar wortwörtlich.

  In einer Ecke des großen Raumes stand ein Schreibtisch aus Glas und Metallstreben, der vorher nicht dort gewesen war. Als ich näher trat, erkannte ich diverse Pads und alte Dokumente auf Papier, die vielleicht einmal ordentlich aufeinandergestapelt gewesen waren, aber jetzt nur noch als Chaos bezeichnet werden konnten. Ich schob ein paar Unterlagen beiseite und entdeckte das gerahmte Foto von Lucien und seinen Geschwistern. Entweder hatte er es nicht mehr ertragen, Leopold und Amelie jeden Morgen beim Aufwachen im Regal stehen zu sehen, oder er erhoffte sich von dem Bild seines Bruders Beistand. Beide Möglichkeiten machten mich traurig, als ich das Foto in die Hand nahm. Glückliche Zeiten schienen das gewesen zu sein, damals, als die Familie de Marais noch komplett gewesen war. Jetzt war nur noch Lucien übrig. Er und eine Herrschaft, um die er jeden Tag kämpfen musste, damit sie ihm nicht entglitt.

  Ich schob den Rahmen wieder unter den Stapel Papier, bevor ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer machte. Auch hier war nun Leben eingezogen – mehr Bücher im Regal, ein paar Klamotten auf dem Sessel am Fenster, ein Pad mit Notizen auf dem Nachttisch. Ich widerstand der Neugier, sie mir genauer anzuschauen, stattdessen wandte ich mich dem Bett zu. Auf der grauen Tagesdecke saß ein alter Bekannter.

  »Hallo, Dr. Grey«, begrüßte ich das Stoffkänguru mit den angekohlten Ohren, das als eines der wenigen von Luciens Kinderspielzeugen den verheerenden Brand damals überlebt hatte. Dr. Grey sah mich skeptisch an, so als würde er mein Erscheinungsbild kritisieren. Ich hätte den Bediensteten nach Kleidung fragen sollen. Schließlich hatte ich nichts mitgebracht und steckte immer noch in Costards Sachen, die ich liebend gerne in einen Häcksler werfen oder publikumswirksam verbrennen wollte. Vielleicht glaubte mir Ilka Saric ja dann, dass ich zu den Guten gehörte.

  Ein Blick ins Badezimmer ließ meinen Körper nach einer heißen Dusche schreien. Vielleicht konnte ich mir etwas von Luciens Klamotten leihen? Die waren mir zwar zu groß, aber ich musste heute schließlich auf keinen Empfang mehr, und der Bedienstete hatte eh immer den gleichen Gesichtsausdruck, ganz egal, wie ich aussah. Also los. Schnell schob ich die Tür neben dem Waschbecken auf und schaltete das Licht im Ankleidezimmer ein.

  »Wow«, entfuhr es mir.

  Früher war gerade mal ein Bruchteil der Regale in diesem Raum belegt gewesen – Lucien hatte nur wenige private Klamotten gebraucht, und dann waren es meist simple Jeans und Kapuzenpullover gewesen. Aber jetzt war alles voll. Ich sah Hemden in ungefähr vierhundert verschiedenen Farben, dazu Anzughosen, Mäntel und Jacken, fast wie damals bei Leopold. Hatte sich Lucien in den letzten Monaten von einem easy gekleideten Surfertypen zu einem Modefreak entwickelt? Und wenn ja, wie fand ich das?

  »Miss?« Ich fuhr herum. Der Bedienstete stand in der Tür. »Ihre Sachen sind da drüben.« Er zeigte auf einige Fächer am Rand des Regals.

  Meine Sachen? Hatte Lucien etwa in den zwei Stunden, seit mich Dufort aus Colmar abgeholt hatte, für Kleidung in meiner Größe gesorgt? Oder …

  »Nicht dein Ernst«, murmelte ich leise, als ich näher kam und erkannte, dass es tatsächlich meine Sachen waren, die hier im Regal lagen – Kleidung, die ich damals aus Brighton mitgebracht oder die mir hier in Maraisville gegeben worden war. Mein grauer Lieblingspulli, die zerschlissene Jeans, die ich Lexie mal abgeluchst hatte. Und natürlich jene grüne Jacke, die Lucien mir geschenkt hatte. Ich merkte, dass meine Augen feucht wurden. Er hatte das alles aufgehoben, obwohl er nach dem Anschlag geglaubt hatte, ich hätte ihn benutzt und verraten. Und er musste es eingelagert haben, denn bei meinem letzten Besuch in diesem Raum waren die Sachen nicht hier gewesen.

  »Oh, und Miss?« Zum Glück lenkte mich die Stimme des Bediensteten ab. »Ihr Essen ist da. Ich habe es im Salon serviert.«

  Ich blinzelte meine Tränen weg. »Vielen Dank. Ich komme gleich.« Er nickte und ging.

  Ich sammelte mich einen Moment und entdeckte neben dem Regal mit meinen Sachen eines, in dem Luciens geliebte Pullover lagen, wild durcheinander, als würde er am Abend hastig einen von ihnen herausziehen, wenn er endlich nicht mehr König sein musste.

  Das beruhigte mich. Nachdem ich das Ankleidezimmer gesehen hatte, war mir der Gedanke gekommen, dass Lucien zu einer jüngeren Version seines Bruders mutiert sein könnte. I
ch hatte Leopold ab einem bestimmten Punkt sehr geschätzt, aber trotzdem war er ernst und einsam gewesen, wahrscheinlich sogar unglücklich.

  Das Gute, das Großartige an Lucien war, dass er trotz all dem Mist, den er in den letzten Jahren hatte ertragen müssen, einen Teil in sich bewahrt hatte, der auf keinen Fall erwachsen werden oder sich irgendwelchen Regeln unterwerfen wollte. Und genau das liebte ich so an ihm.

  Ich ging hinüber ins Wohnzimmer – ich weigerte mich, es als Salon zu bezeichnen – und sah, dass auf dem schmalen Tisch am Fenster ein einzelner Teller unter einer Abdeckung stand. Ich hob sie herunter und musste lachen, als ich das Gericht sah: synthetisches Hühnchen mit Reis und Gemüse, genau das, was es mindestens einmal pro Woche in der Supply-Station für uns Anwärter gegeben hatte. Damals war mir das Essen zu den Ohren rausgekommen, aber jetzt kam es mir wie ein Festmahl vor.

  Ich setzte mich, nahm die Stoffserviette und das Besteck und begann zu essen. Während ich mir das Hühnchen auf der Zunge zergehen ließ und auf die Stadt schaute, fiel es mir auf: Zum ersten Mal seit Ewigkeiten musste ich nicht in jeder Sekunde über die Schulter sehen und darauf achten, was ich sagte, wie ich guckte oder was ich tat. Ich war einfach nur ich selbst.

  Das war verdammt ungewohnt.

  8

  Als Lucien nach dem Essen nicht auftauchte, beschloss ich, den Luxus seines Badezimmers in Anspruch zu nehmen und nicht nur die Klamotten, sondern auch den Geruch von Costards Container loszuwerden. Da ich Zeit hatte, nahm ich ein ausgiebiges Bad mit federleichtem Schaum, der mich wie eine kleine Wolke umhüllte und vergessen ließ, dass es eine Welt da draußen gab, die kurz vor einem offenen Krieg stand. Das heiße Wasser brannte an den Abschürfungen vom Kampf mit Kovacs und ließ mich alle blauen Flecken spüren, die ich mir in der letzten Zeit zugezogen hatte. Aber irgendwann verschwand auch das.