Die Sterne werden fallen Page 21
»Keine Ahnung, was Caspar ihm verraten hat. Aber warum sollte er sauer sein? Dass du dich regelmäßig in Gefahr bringst, müsste er doch langsam wissen.«
Ich rieb mir den schmerzenden Kopf. »Das ist eine längere Geschichte.« Jye wusste ja nichts davon, was sich im Refugium abgespielt hatte. »Allerdings glaube ich nicht, dass –«
Das Öffnen der Tür hielt mich davon ab, meine Bedenken auszusprechen. Als ausgerechnet Lucien hereinkam, verstärkte sich das Ziehen in meinem Magen. Er wirkte wie immer, ein bisschen erschöpft, aber nicht angespannter als gewöhnlich. Ich wusste nicht, ob mich das erleichtern sollte.
»Ich schätze, das findest du jetzt selbst heraus.« Jye grinste mir zu und erhob sich.
»Du musst nicht gehen«, sagte Lucien zu ihm.
»Oh doch, ich glaube schon.« Mein bester Freund ging zur Tür. »Ich muss dringend ein bisschen Schlaf nachholen. Wo ist denn hier die Unterkunft für Ex-Verräter?«
Lucien grinste. »In meinem Bett ist leider kein Platz mehr.« Beide lachten, und hätte mein Brustkorb nicht so geschmerzt vor Sorge wegen Luciens Reaktion, hätte ich wohl mitgelacht. »Melde dich einfach bei Imogen, wenn du in der Festung bist. Sie kümmert sich darum, dass du ein Zimmer bekommst.« Jye ging hinaus und Luciens Grinsen schwand, als er mich ansah. »Und jetzt zu dir.«
»Bevor du irgendetwas sagst, es war nicht geplant, dass ich verletzt werde«, sagte ich schnell.
»Ist es denn jemals geplant, dass jemand verletzt wird?«, fragte er mit gespieltem Interesse. Ich schwieg, davon überrascht, dass Lucien weder wütend noch enttäuscht zu sein schien. Ich sah nur ehrliche Besorgnis in seinen Augen, als er sich auf den Stuhl setzte, den Jye gerade freigemacht hatte. Trotzdem entschuldigte ich mich nicht. Denn dieses Mal wäre es Heuchelei gewesen. Ich hatte genau gewusst, was ich tat – und was ich damit anrichten konnte.
»Ich spare mir das. Du hättest draufgehen können und Hast du eine Ahnung, was für eine Scheißangst ich um dich hatte? Denn ich verschwende keine Hoffnung daran, dir damit ein derartig schlechtes Gewissen zu machen, dass du so etwas nie wieder tust.« Er sah mich an, und dieser Blick ließ mich ahnen, dass mein schlechtes Gewissen sehr wohl groß genug werden könnte. Aber wieder entgegnete ich nichts. Lucien seufzte. »Warum wolltest du mir nichts von dieser Mission sagen?«, fragte er schlicht. Er verriet damit nicht, was er über unseren Ausflug von Dufort wusste. Aber ich tippte darauf, dass der nur erzählt hatte, was nötig war – und mir den Rest überließ. Vielen Dank auch.
Ich hätte um den heißen Brei herumreden können, um die Wahrheit zu verschleiern. Aber das wollte ich nun nicht mehr. Ja, vielleicht machte es Lucien falsche Hoffnungen, und ja, vielleicht würde die Realität sie dann wieder zerstören. Nur musste ich ihm zutrauen, selbst damit zurechtzukommen. Schließlich waren wir ein Team. Und er hatte bewiesen, dass er mehr aushalten konnte als die meisten anderen.
»Vor ein paar Tagen abends im Bett, nachdem du gesagt hast, dass du manchmal das Gefühl hast, Leopold wäre noch da … hatte ich einen Traum von ihm.«
»Dieser Albtraum, den du hattest?« Lucien schien sich zu erinnern. »Darin ging es um Leo?«
Ich nickte gegen meine verkrampften Nackenmuskeln an. »Er stand am Pier in Brighton und wir haben geredet – über dich und über ihn, über Amelie … und dann kamen Soldaten, die aussahen wie ich und die ihn … sie haben ihn zusammengeschlagen.« Bedauernd sah ich Lucien an. »Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich dachte, vielleicht tut es dir weh.«
Lucien lächelte traurig und schob seine Finger zwischen meine. »Ich erinnere mich in jeder Sekunde daran, dass ich ihn verloren habe. Nichts, was du sagst, kann das schlimmer machen.«
»Aber es macht es auch nicht besser.« Ich hob meine Schultern. »Immer, wenn ich in der Vergangenheit von Leopold geträumt habe, war etwas Wahres dran. Also habe ich eine Kapsel genommen und mich an die Daten vom Absturz gesetzt.«
»Deswegen warst du so viel weg in den letzten Tagen?«
Ich nickte. Lucien hatte mich nach unserer Aussprache stärker einbeziehen wollen, aber ich hatte seine Einladungen zu Besprechungen meist unter einem Vorwand ausgeschlagen.
Lucien runzelte die Stirn. »Cas hat gesagt, es gab Auffälligkeiten in den Strahlungsdaten nach dem Unglück. Und dass ihr deswegen in der schwarzen Zone wart, um nachzuprüfen, ob dort wirklich eine FlightUnit gelandet ist. Glaubst du … das könnte etwas mit Leopold zu tun haben? Dass er vielleicht …?« Hoffnung flammte in seinem Gesicht auf – genau das, was ich ihm gerne erspart hätte.
»Ich weiß es nicht.« Zweifelnd sah ich ihn an. »Die Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering. Selbst wenn dort jemand gelandet ist, bedeutet es noch gar nichts. Vielleicht ist es nur Zufall gewesen. Oder Costards Leute waren vorher da, um die Sicherheitsvorkehrungen in der schwarzen Zone zu checken.« Das schien die wahrscheinlichste Lösung für dieses Rätsel. Wenn auch gleichzeitig die deprimierendste, wo wir doch alle auf ein Wunder hofften.
Luciens Stirn legte sich in tiefe Falten. »Direkt vor dem Unglück? Warum sollte er das tun? Noch dazu genau dort? Ein Absturz lässt sich nicht so exakt berechnen, wie konnte er wissen, dass –«
»Hey, stopp«, bremste ich sanft Luciens Elan und drückte seine Hand, bis er mich ansah. »Sei ehrlich: Wenn du das ganz objektiv betrachtest, wenn das hier ein ganz normaler Schakalauftrag für dich wäre, was würdest du dann denken?«
Er atmete ein, dann seufzte er. »Dass Costard die Sicherheitsvorkehrungen abchecken wollte, bevor die OmnI unsere Unit vom Himmel holt«, sagte er. Aber dann sah er auf und ich erkannte: Das leise Flackern der Hoffnung war noch nicht aus seinen Augen verschwunden. »Und trotzdem bist du dorthin geflogen und hast den Chef der Schakale dazu überreden können, dich zu begleiten.«
»Ich bin eben verrückt. Das solltest du mittlerweile wissen.«
Er lachte leise auf. »Ich dachte immer, das wäre mein Part.«
»Es ist unser Part«, widersprach ich weich.
Ein langer und sehr prüfender Blick traf mich, dem ein liebevolles Lächeln folgte. »Du hast das für mich gemacht, oder?«, fragte Lucien leise. »Weil du mich davon befreien wolltest, König zu sein.«
Ich spürte einen Kloß im Hals und versuchte, ihn runterzuschlucken. Vergeblich. »Ich liebe dich«, brachte ich heraus. »Und du hasst dieses Amt. Wie könnte ich also nicht versuchen, dich davon zu befreien?«
Er küsste mich als Antwort sanft, dann schwang er sich neben mir aufs Bett und nahm mich vorsichtig in die Arme. »Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du es versuchen wolltest. Aber ab jetzt ist Schluss damit, okay?«
»Okay.« Ich hob den Kopf, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
»Ich liebe dich«, murmelte Lucien, und ich kannte den Tonfall in seiner Stimme nur zu gut. Er klang nach mehr – mehr Nähe, mehr von uns, und ich war nur zu gern bereit, darauf einzugehen. Der nächste Kuss war schon weniger harmlos und der nächste noch weniger. Ich hatte längst Luciens Hemd aus dem Bund der Hose gezogen und meine Hände trafen auf die Wärme darunter, aber dann machte mir mein Zustand einen Strich durch die Rechnung. Als Lucien mich enger an sich zog, unterdrückte ich ein Stöhnen, nur leider vor Schmerzen. Mein Körper war immer noch eine einzige Beschwerdeliste.
Lucien lockerte hastig seine Umarmung.
»Entschuldige. Ich habe fast vergessen, was du da abbekommen hast.« Er wollte mich loslassen, aber ich hinderte ihn daran. Die Schmerzen waren kein Grund, mich nicht in seine Arme zu kuscheln – auch wenn die Hitze zwischen uns sich mit einem Schlag verabschiedet hatte.
»Was habe ich denn da eigentlich abbekommen?«
»Es heißt K-Wreck.« Lucien schauderte. »Grauenhaftes Zeug, vor dem haben sogar Schakale Angst. K-Wreck treibt in den Wahnsinn und tötet schließlich, wenn man nicht schnell genug das Gegenmittel verabreicht. Heutzutage benutzt das kaum noch jemand – es wirkt zu langsam und ist nicht unauffällig genug. Deswegen ist das Antidote auch nicht mehr in den Notfallsets.«
Ich schluckte. »Woher habe ich das Gegenmittel da
nn bekommen?«
»Von Caspar. Dass es nicht mehr in den regulären Notfallsets ist, heißt nicht, dass er ohne loszieht, wenn er auf eine Mission geht. Aber es war trotzdem auf des Messers Schneide. Wegen deiner optimierten Synapsen hat das Nervengift des K-Wreck bei dir viel schneller gewirkt als sonst.«
Ich starrte ihn an, während seine Worte sich langsam den Weg durch eben jenes optimierte Gehirn bahnten. »Das bedeutet …« Ich hätte wirklich sterben können. Als Ursache für diese fürchterlichen Schmerzen hatte ich irgendeine Foltersubstanz vermutet, nicht dass sie tatsächlich auf grausame Weise töten sollte … und einen nicht nur dazu bringen, es herbeizusehnen. Plötzlich begann ich zu zittern, und Lucien verstärkte vorsichtig seine Umarmung, bis es aufhörte.
»Scheiße«, war das Erste, was ich sagte, als ich meinen Körper wieder unter Kontrolle hatte.
»Allerdings«, antwortete Lucien. »Ich verstehe, warum du in die schwarze Zone wolltest. Aber keine Hoffnung dieser Welt ist es wert, dass du dich so in Gefahr bringst. Auch meine nicht. Ich sitze lieber den Rest meines Lebens in dieser Stadt fest, als dich zu verlieren.« Er sah mich ernst an.
Ich nickte stumm. »Tut mir leid, dass ich dir nicht zugetraut habe, damit klarzukommen«, entschuldigte ich mich nun doch. »Es war dämlich, dir nichts davon zu sagen.«
Lucien schnaubte, halb amüsiert, halb empört. »Jeder ist nur darauf aus, mich zu schützen, und ich kann die Leute nicht davon abhalten. Aber bei dir will ich das nicht. Ich will nicht, dass du denkst, mir irgendetwas verheimlichen zu müssen.«
»Eigentlich hatte ich das auch nicht vor. Ich wollte dich nie wieder anlügen, nach allem, was diese Lügen damals angerichtet haben. Aber wir hatten uns so gestritten, weil ich eine gefährliche Mission dir vorgezogen habe …«
»Deswegen glaubst du, dass ich dich jetzt in Watte packen will?« Lucien schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dir nie reichen wird, in einem goldenen Käfig zu sitzen und hübsch auszusehen. Und ich kette dich hier nicht fest, nur weil ich selbst nicht raus kann. Aber ich wäre froh, ich wüsste wenigstens, wenn du irgendwo die Neuauflage deiner Stunt-Show planst.«
»Du meinst Tod in der schwarzen Zone?«
Luciens Lachen war eher bitter. »Mach darüber keine Witze.«
»Warum nicht? Du hast damit angefangen.« Ich lächelte und musste dann gähnen. Die Erleichterung, dass zwischen uns alles gut war, bescherte mir trotz meiner Schmerzen eine angenehme Erschöpfung.
»Ich lass dich mal schlafen.« Lucien erhob sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Die Ärzte sagen, du bist in drei Tagen wieder fit. Aber solange sollst du zur Beobachtung hierbleiben. K-Wreck ist echt tückisch, mir wäre es lieber, du würdest auf ihre Empfehlung hören.«
Ein braves Nicken war meine Antwort darauf. »Ich werde dieses Bett nicht verlassen, bis man mir grünes Licht gibt. Vorausgesetzt, du kommst ab und zu vorbei.«
»Wie könnte ich nicht.« Wieder bekam ich einen Kuss. »Kann ich irgendwas dafür tun, dass du dich nicht langweilst? Dir etwas bringen lassen oder so?«
»Hm, wie wäre es mit der Drohne aus der schwarzen Zone?« Ich hob unschuldig die Hände, als ich Luciens Gesichtsausdruck sah. »Hey, ich habe mich nur bereit erklärt, im Bett zu bleiben. Was ich hier mache, ist meine Sache.« Ich musste unbedingt wissen, wer hinter dem Angriff auf Dufort und mich steckte. Da wir den Scan nicht hatten abschließen können, war die Drohne alles, was uns zur Verfügung stand.
Luciens Stirn zog sich zusammen, dann glättete sie sich wieder. »In Ordnung. Aber erst morgen. Heute ruhst du dich aus.« Ich wäre jede Wette eingegangen, dass auch er wissen wollte, wer uns beschossen hatte.
»Aye, Sir.« Ich salutierte. Dann fiel mir etwas ein. »Was war das eigentlich für ein Notfall heute Morgen? Jye hat gesagt, du musstest deswegen weg.« Hier in diesem Krankenzimmer konnte man leicht vergessen, dass es da draußen um weit mehr ging als um ein einzelnes Leben – oder die Frage, wer ehrlich zu wem war.
»Die OmnI hat die Pads ein weiteres Mal übernommen. Wir konnten das auch mit den besten Sicherheitsmaßnahmen nicht verhindern.« Er sagte es, als wäre es seine Schuld.
»Wozu diesmal?« Ich setzte mich auf. Mir war kalt, aber nicht weil Lucien nicht mehr neben mir lag.
»Es war wieder eine Nachricht. Nur: Macht euch bereit, denn die Wahrheit ist ohne Furcht, wieder mit dem Unendlichkeitszeichen darunter.« Lucien rieb sich über das Gesicht.
»Also wieder eine Botschaft an mich?« Wenn ja, verstand ich sie nicht auf Anhieb. Macht euch bereit? Wofür?
»Eher nicht«, sagte er. »Ich glaube mittlerweile, dass sie das Symbol nicht benutzt, weil es Nachrichten an dich sind. Sie kennt es von dir, hat es aber nun zu ihrem eigenen Markenzeichen gemacht.«
Ich runzelte die Stirn. »Hat sie sich danach wieder ausgeklinkt?«
»Direkt danach. Keine Ahnung, was das sollte.«
»Na, solange sie nur leere Floskeln an die Leute schickt, sollten wir froh sein.« Ich atmete aus.
»Ja, sollten wir wohl«, sagte Lucien.
»Aber dein Gefühl sagt dir etwas anderes«, stellte ich fest. Ich konnte ihn mittlerweile ganz gut lesen, wenn er mich ließ.
»Mein Gefühl warnt mich derzeit vor allem und jedem, Stunt-Girl. Schon seit Monaten.« Er lächelte müde. »Ich habe aufgehört, jeder dieser Warnungen nachzugehen. Dafür hat der Tag nicht genug Stunden. Schlaf jetzt, okay?« Er drückte die Klinke der Tür herunter.
»Okay«, willigte ich ein.
Aber sobald ich wieder wach war, würde ich herausfinden, wer hinter dem Angriff in der schwarzen Zone steckte.
Und was derjenige damit bezweckt hatte.
21
Die Drohne war ein tückisches Ding – oder vielmehr jener Mensch, der sie programmiert hatte. Das merkte ich, als ich herausfinden wollte, von wo aus sie gesteuert worden war. Sie besaß nämlich einen flexiblen Code und konnte ihn verändern, eine künstliche Mini-Intelligenz sozusagen, darauf beschränkt, das Ziel ihres Signals zu verschleiern.
Ich saß einen ganzen Tag und eine Nacht daran, bis ich endlich die Strukturen nachvollziehen und sie zumindest grob mit Südamerika in Verbindung bringen konnte. Hätte ich eine meiner Kapseln nehmen dürfen, wäre alles schneller gegangen, aber meine Mutter hatte mir die Einnahme verboten, bis das K-Wreck vollständig aus meinem Körper verschwunden war. Genauso lange musste ich auch noch im Medical Department bleiben, aber immerhin war ich beschäftigt, wenn ich keinen Besuch von Jye, Dufort oder Lucien bekam.
Am frühen Abend des zweiten Tages steckte ich gerade mitten in einer Analyse der Datenströme, als ich mein Pad vom Tisch nahm und die neueste offizielle Verlautbarung entdeckte. Der königliche Kommunikationschef Adrian Deverose verschickte diese Informationen in den letzten Wochen regelmäßig an die Lesepads der Bevölkerung, um die Leute zu beruhigen. Die Menschen waren nicht dumm, auch im letzten Dorf hatte man mittlerweile bemerkt, dass etwas vor sich ging – und die durch die Lande marodierenden Teams von Costard waren bei der Aktivierung der MerchPoints nicht gerade unauffällig vorgegangen. Da war es gut, wenn die Gemüter ein bisschen beruhigt wurden.
Eher aus Gewohnheit tippte ich die neue Mitteilung an, um sie kurz zu überfliegen und dann löschen zu können. Aber als ich sie öffnete, überzog Gänsehaut innerhalb von Sekunden meine Arme. Die Schriftart kannte ich, genau wie das Symbol, das über der Nachricht stand. Es war das gleiche wie auf meinem Handgelenk.
Nur waren es diesmal nicht nur vereinzelte Parolen. Es war ein kompletter Text, dessen Titel meine Gänsehaut zu einem schmerzhaften Prickeln werden ließ.
∞
DIE WAHRHEIT ÜBER LEOPOLD DE MARAIS
»Ab sofort gilt das Verbot des Besitzes, der Entwicklung, des Verkaufs und der Benutzung jedweder Kommunikationstechnologie. Dieser Schritt dient der Bewahrung des sozialen Zusammenlebens, wie wir es kennen und brauchen.«
(Programm zur Rückbesinnung auf entscheidende Werte und soziales Zusammenleben, § 1)
Das sin
d jene Worte, die vor fast sieben Jahren euer Leben komplett auf den Kopf gestellt haben. Man sagte euch, dass dieser Schritt notwendig sei. Dass er die Menschheit rette. Dass euer Leben dadurch besser wird. Dass man euch die Wahrheit sagt.
Aber es ist nicht die Wahrheit. Ihr wurdet belogen, um euer Recht auf Fortschritt gebracht, bevormundet und dumm gehalten wie kleine Kinder. Von einem Mann, der nichts weiter im Sinn hatte als seine eigene Macht. Aber obwohl Leopold de Marais tot ist, sind seine Entscheidungen nicht mit ihm gestorben. Deswegen wird es Zeit, dass ihr die Wahrheit über ihn erfahrt. Damit ihr endlich wieder eure eigenen Entscheidungen treffen könnt.
Ich merkte, dass ich während des Lesens die Luft angehalten hatte, und atmete aus. Am gruseligsten an diesen Worten war nicht der Propaganda-Tonfall, der alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen ließ. Am gruseligsten war, dass sie früher von mir hätten stammen können. Das Recht auf Fortschritt, die Bevormundung, der Machterhalt, das waren alles Begriffe, die wir bei ReVerse ständig benutzt hatten. Ich las weiter.
Leopold de Marais war ein Tyrann. Ein Menschenfeind, dessen Kaltherzigkeit nicht einmal vor seiner eigenen Familie haltmachte. Würde ein König, der für euch nur das Beste will, seinen jüngeren Bruder im Alter von sechzehn Jahren auf lebensgefährliche Missionen im Dienste seiner eigenen Herrschaft schicken? Oder seine Schwester immer wieder in den Schatten drängen, bis sie die Flucht ergreift? Und würde so ein König seinen Sohn für die Abkehr verlassen, ebenso wie dessen Mutter, die als Stabschefin seinem Kreuzzug dienen, aber nicht als Frau an seiner Seite sein darf?
Ich schnappte nach Luft, dann las ich es noch einmal – in der vagen Hoffnung, es stünde nicht schwarz auf weiß dort. Aber es stand da, und damit auch auf Millionen weiterer Pads, die in Europa verteilt waren. Jenes Geheimnis, das Imogen und Leopold seit Beginn der Abkehr so sorgfältig gehütet hatten, lag mit dieser Mitteilung offen vor der gesamten Bevölkerung und bald auch jeder ausländischen Regierung. Es war die mit Abstand schlimmste Offenbarung der Hetzrede. Dass Lucien ein Schakal war, hatte er Knox selbst verraten – und Amelies Rolle in diesem ganzen Spiel war keine Sensation, wenn man eins und eins zusammenzählen konnte. Aber Lynx’ Identität in die Welt hinauszuposaunen, das kam einer Katastrophe gleich. Es bedeutete, dass nun jeder wusste: Lucien war nicht der Letzte in der Reihe.