Die Sterne werden fallen Read online

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  Ich sah den echten Lucien durchblitzen, endlich. Aber obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, spürte ich nun keine Freude darüber. Denn hinter diesem Riss in der Mauer sah ich zu viel Kummer, zu viel Schmerz und die Gewissheit, dass ich zum Teil Schuld daran trug. Was er sagte, war ungerecht, es war zutiefst unfair. Und trotzdem war es auch wahr. Ich hätte wissen müssen, dass dieses Amt ihn auffressen würde, ihn, den freiheitsliebenden, nie stillstehenden kleinen Bruder eines Mannes, der ihn mit einem Erbe zurückgelassen hatte, das für jeden zu groß gewesen wäre. Ich hätte es wissen müssen.

  »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte ich leise, aber er schien es nicht zu hören.

  »Himmel, war ich blöd.« Er lachte freudlos auf. »Ich dachte tatsächlich, du würdest zurückkommen. Nach ein oder zwei Wochen, wenn du merkst, dass dein beschissener Feldzug gegen die OmnI auch nicht dafür sorgt, dass du dich besser fühlst. Oder wenigstens zu Weihnachten, weil du mich immerhin ein bisschen vermisst. Aber Fehlanzeige. Und jetzt willst du die erstbeste Gelegenheit nutzen, um wieder zu verschwinden.«

  »Ich habe dich vermisst!«, rief ich verzweifelt. »Mehr als du dir überhaupt vorstellen kannst! Aber du warst ja nicht allein. Du hast Imogen und Dufort –«

  »Imogen und Caspar arbeiten für mich, Ophelia!«, fiel er mir hart ins Wort.

  »Sie sind aber auch deine Freunde«, hielt ich dagegen.

  »Das waren sie, bevor diese ganze Scheiße passiert ist! Jetzt sind sie vor allem meine Mitarbeiter. Wenn ich ihnen zeigen würde, was wirklich in mir vorgeht, dann hätten sie sicherlich Verständnis, aber sie würden auch an mir zweifeln. Und das dürfen sie nicht! Ich kann mir ihnen gegenüber keine Schwäche leisten, nicht eine Sekunde lang!« Seine Stimme kippte vor Wut und Kummer. »Die einzige Person auf dieser ganzen verdammten Welt, bei der das anders gewesen wäre, bist du! Aber du warst nicht da!« Er atmete schwer, aber er war noch nicht fertig. »Und jetzt wagst du es, mir vorzuwerfen, dass ich meinen Job mache? Nachdem du gerade erst angeboten hast, schon wieder wegzugehen, um dich in Gefahr zu bringen? Du wagst es, mir vorzuwerfen, dass ich mich davor schütze, noch jemanden zu verlieren, den ich liebe? Dazu hast du kein Recht!« Er sah mich an, und die Wut in seinem Blick verwandelte sich in etwas, das mir Tränen in die Augen trieb. »Dazu hast du kein Recht«, wiederholte er leiser, aber umso verletzter. Dann wandte er sich ab und verschwand im Schlafzimmer.

  Ich blieb stehen, wo ich war. Tränen liefen mir über die Wangen, und mein Körper schmerzte, als wäre ich von einem hohen Turm auf harten Asphalt gestürzt, aber ich gab keinen Laut von mir. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich auch dazu kein Recht.

  Wie lange ich so dagestanden hatte, wusste ich nicht. Aber irgendwann kam Lucien zurück. Er hatte sich umgezogen – Sportkleidung und Laufschuhe. Ohne ein Wort ging er an mir vorbei zur Tür.

  Was hatte er vor? Wollte er irgendwas Dummes tun? Verzögert setzte ich mich in Bewegung und lief ihm nach. Ich erwischte ihn, als er gerade hinausging.

  »Lucien, bitte, mach keinen Mist, okay?«, flehte ich. »Du kannst nicht raus, es ist zu –«

  »Ich gehe nicht raus«, unterbrach er mich und aus seiner Stimme war wieder jede Emotion gewichen. Er sah mich nicht an. »Ich laufe unten in der Festung und benutze den Kraftraum der Schakale. Wie immer.« Das wüsstest du, wenn du hier gewesen wärst.

  »Luc, es tut mir leid«, flüsterte ich. Aber auch das brachte ihn nicht dazu, mich anzuschauen.

  »Vergiss es«, murmelte er nur. »Vergiss das alles.«

  Darauf wusste ich nichts zu sagen, also konnte ich ihn nur gehen lassen.

  Und als er mich in diesem Moment verließ, als er in Richtung Aufzug lief, die Schultern hart und angespannt, den Kopf gesenkt, hatte ich das Gefühl, es wäre für immer.

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  Nachdem Lucien gegangen war, wusste ich eine ganze Weile nicht, was ich tun sollte. Erst heulte ich meinen Kummer raus, dann wollte ich mir meine Sachen schnappen und in eines der Gästezimmer umziehen, da ich das Gefühl hatte, Lucien wolle mich hier nicht mehr haben. Mitten im Packen kam mir diese Idee plötzlich total dumm vor – er hatte mir vorgeworfen, ihn im Stich gelassen zu haben. Ich würde ihm nicht recht geben, indem ich jetzt das Weite suchte. Also ging ich duschen, zog mich um, versuchte mich auf den Brief an Eneas zu konzentrieren, war mit den Gedanken aber immer noch bei dem Streit mit Lucien. Dann heulte ich wieder eine Runde und erwog erneut, in ein Gästezimmer zu ziehen, diesmal aber, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte. Und schließlich tat ich das einzig Richtige und meldete mich bei Imogen, da ich jemandem von der Begegnung mit der OmnI erzählen musste.

  »Kannst du zu mir in die Stadt kommen?«, fragte sie, als ich über das Terminal anfragte, ob wir sprechen könnten. »Ray ist heute Abend unterwegs, und ich will Lynx nicht wieder der Nachbarin überlassen, wenn es kein Notfall ist.« Davon gab es in letzter Zeit schließlich genug.

  »Klar. Ich bin eh froh, wenn ich mal hier rauskomme.«

  Bald darauf stand ich in Zone B vor einem schmalen Häuschen, das nur eine Gasse entfernt von den ganzen Geschäften lag. Es war ein altes Gemäuer, das sich an seinen Hausnachbarn anzulehnen schien, aber trotzdem sehr massiv wirkte.

  Als ich klingelte, hörte ich jemanden rufen, und schließlich öffnete Lynx die Tür. Er trug einen blauen Schlafanzug mit kleinen Dackeln darauf.

  »Hi, Ophelia«, sagte er und grinste mich an.

  »Hi, Dackelfreund«, gab ich zurück und spürte, dass ich mich direkt ein bisschen besser fühlte. Diese Gabe musste Lynx von seinem Onkel geerbt haben – auch wenn der gerade ganz andere Gefühle in mir hervorrief.

  Der Kleine ging zur Seite und hielt mir die Tür auf. »Mum hat gesagt, dass du kommst, deswegen habe ich einen Deal mit ihr gemacht. Wenn ich aufbleiben darf, bis du da bist, und dir mein Zimmer zeigen kann, dann befülle ich die ganze Woche die DishUnit.«

  »Das klingt fair, finde ich.« Obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, dass er meinetwegen solch einen Handel eingehen musste. Ich hätte schließlich auch tagsüber vorbeikommen können, Zeit genug hatte ich ja.

  Lynx wartete, bis ich die Winterstiefel von den Füßen gezogen und meine Jacke an die Garderobe gehängt hatte. Dabei zappelte er die ganze Zeit herum und schnappte, kaum dass ich fertig war, meine Hand, um mich mitzuziehen. Ich konnte Imogen nur im Vorbeigehen begrüßen und lediglich einen schnellen Blick auf die gemütliche Einrichtung des Häuschens werfen, dann war ich auch schon auf der Treppe nach oben.

  Das Zuhause von Imogen und Lynx – ich wusste nicht, ob Ray auch dauerhaft hier wohnte – war ein großer Kontrast zum Juwel. Nicht nur, weil das Haus alt war, sondern vor allem wegen der Farben. Während die Räume in der Festung vor allem in Weiß, Grau und Schwarz gehalten waren, leuchtete es hier ziemlich bunt: Farbenfrohe Teppiche lagen auf dem honigfarbenen Dielenboden, die Möbel waren aus hellem Holz und an den Wänden hingen knallige Bilder. Ich konnte nicht sagen, was ich erwartet hatte, aber das nicht. Imogen trug meist eher strenge Kleidung und auch wenn sie in Privatklamotten in der Festung auftauchte, waren diese nicht gerade bunt. Aber das Haus gefiel mir. Es erinnerte mich ein bisschen an unsere Wohnung in Brighton, minus den Phobe-Touch. Es war einfach ein echtes Zuhause. Trotz des Streits mit Lucien, der mir tief in den Knochen steckte, spürte ich, wie meine Anspannung nachließ.

  »Ophelia, komm schon«, drängte Lynx. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mitten im Flur des ersten Stocks stehen geblieben war.

  »Bin schon da.« Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Wenige Schritte weiter stand ich in seinem Reich – einem gemütlichen und noch bunteren Zimmer mit Dachschrägen und einer Gaube. Lynx breitete die Arme aus wie ein Schlossherr.

  »Wie findest du es?«

  »Total super«, sagte ich und meinte das auch so. Es war das Traumzimmer eines kleinen Jungen: In der Ecke stand ein Hochbett, das man nur mit einer Leiter erklimmen konnte, daneben Regale voller Bücher und Kisten gefüllt mit Spielzeug. Ich erkannte ein Stecksystem, das ich selbst als Kind gehabt hatte, mit verschiedenfarbigen Klötzen
, die sich zu unterschiedlichen Gebilden zusammenbauen ließen. Früher hatte es dafür eine InterLink-Schnittstelle gegeben, damit man virtuell ganze Städte erbauen konnte. Aber dieser Teil des Spielzeugs war der Abkehr zum Opfer gefallen. »Ist das hier deine Höhle?« Ich zeigte auf das Hochbett mit seinen gemütlichen Vorhängen.

  »Es ist meine Festung.« Lynx nickte ernst. »Wenn alles blöd ist, geh ich da rein, und dann ist es schon gar nicht mehr so schlimm.«

  Ich lächelte. »Ja, das Gefühl kenne ich.«

  »Warum, hast du auch so eine Festung?«

  »Ich hatte eine, aber ich bin schon länger nicht mehr hinaufgeklettert.«

  »Wo ist die?« Er sah mich neugierig an.

  »Kennst du das verfallene Castello oben auf dem Berg? Dort bin ich immer hingelaufen, morgens, wenn noch kaum jemand auf den Beinen war. Sobald ich auf der Mauer gesessen und über die Stadt geguckt habe, wurde alles irgendwie klein. Probleme, Sorgen, Ängste, alles.«

  Lynx’ Neugier verschwand nicht. »Und da hast du auch Onkel Luc kennengelernt, oder? Das hat er mir erzählt.«

  »Ja, richtig.« Ich schluckte und schob den Gedanken an Lucien beiseite. Stattdessen sah ich mich im Zimmer um. »Also, zeigst du mir auch den Rest?«

  Das ließ sich Lynx nicht zweimal sagen. Er präsentierte mir seine liebsten Spielsachen und sein heiß geliebtes Stofftier, einen Delfin mit dem originellen Namen Dolfi. Er erklärte mir, dass seine beste Freundin Felicia in der ersten Klasse Dolfi einmal in den Teich geworfen hatte, um zu sehen, ob er schwimmen konnte – und dass er seitdem etwas grün war, obwohl die WashUnit alles gegeben hatte. Mitten in dem Versuch, mich von der Notwendigkeit eines eigenen Kuscheltiers zu überzeugen, weil mein Leben sonst echt armselig wäre, hielt Lynx jedoch inne und sah mich an.

  »Bist du traurig?«, fragte er mich ganz direkt.

  »Wie kommst du darauf?« Ich wollte nicht ausweichen, ich war nur überrascht.

  »Du hast rote Augen. Das hat man nur, wenn man geweint hat oder allorgisch ist.«

  »Allergisch«, korrigierte ich automatisch.

  »Ja, das auch. Also, bist du allorgisch oder traurig?«

  Ich hatte ihm bisher immer die Wahrheit gesagt, also log ich auch jetzt nicht.

  »Traurig.«

  »Warum?«

  »Ich habe mit Lucien gestritten.«

  »Onkel Luc? Wieso?«

  »Ach, wir waren bei einer Sache nicht der gleichen Meinung. Und dann sind wir ungerecht geworden, haben uns angeschrien … es war nicht schön.«

  »Und deswegen hast du geweint?«

  »Ja. Es macht mich traurig, wenn wir so miteinander reden.«

  »Versteh ich.« Lynx’ Gesicht verzog sich konzentriert. Der Ausdruck erinnerte mich an das Tier, dem er seinen Namen verdankte. Wenn er so schaute, sah er wirklich ein bisschen aus wie ein Luchs. »Mum hat auch geweint«, verriet er mir und drückte seinen Delfin an sich. »Nachdem der König gestorben ist. Sie hat geweint und mich ständig in den Arm genommen, das hat ein bisschen genervt. Aber sie war echt traurig, also hab ich nichts gesagt. Ich glaube, sie mochte ihn ziemlich gern.«

  Ich lächelte. »Ja, da hast du recht. Sie waren Freunde.« Eigentlich waren sie einmal wesentlich mehr gewesen als das, aber davon wusste Lynx nichts. Er hatte keine Ahnung, wer sein Vater war. »Hast du ihn mal kennengelernt?«, fragte ich. »Leopold, meine ich.«

  Lynx nickte und legte seinen Stoffdelfin wieder auf das Hochbett. »Er war manchmal zum Essen hier.« Sein Tonfall ließ nicht darauf schließen, was er von diesen Besuchen gehalten hatte.

  »Und, mochtest du ihn?« Ich fragte mich, ob Vater und Sohn sich wohl verstanden hatten, vor allem in dieser speziellen Situation.

  »Hm.« Lynx hob die Schultern und seine braunen Augen verengten sich. »Weiß nicht. Er war so ernst. Hat mich Sachen über die Schule gefragt und so. Wie ein Erwachsener.«

  Ich musste lachen. »Er war ja auch ein Erwachsener.« Und dazu dein Vater, dem es wahrscheinlich bei jeder Begegnung das Herz zerrissen hat, genau das nicht für dich sein zu dürfen. Ich dachte an mein Gespräch mit der OmnI und daran, was sie über Leopold gesagt hatte. Was für ein Unsinn. Er war nicht kaltblütig gewesen, ganz im Gegenteil.

  »Jaaah, schon«, antwortete Lynx. »Aber Onkel Luc oder Ray sind auch Erwachsene, und sie reden nicht so mit mir. Oder du.«

  »Ich bin ja auch noch nicht so lange erwachsen«, sagte ich. Selbst wenn ich manchmal das Gefühl hatte, ich wäre im letzten Jahr um ungefähr zehn gealtert.

  Lynx schien das für kein gutes Argument zu halten, denn er ging gar nicht darauf ein. »Und du?«, fragte er mich. »Ich weiß, dass du den König erschießen wolltest, also hast du ihn wahrscheinlich nicht gemocht, oder?«

  »Das kann man so nicht sagen. Als ich ihn erschießen wollte, habe ich noch geglaubt, er wäre böse. Dabei war ich diejenige, die böse war.« Ich seufzte. »Leopold war ein sehr netter Mann. Das solltest du –«

  »Ophelia? Kann ich dich kurz sprechen?« Imogen stand in der Tür und ihr Tonfall war ernst. Uh-oh. Wie viel hatte sie gehört? Wahrscheinlich bekam ich jetzt Ärger, weil ich mit ihrem Sohn über Leopold geredet hatte – oder darüber, dass ich den König hatte umbringen wollen. Das war wirklich kein Thema für einen Achtjährigen. Entsprechend schuldbewusst sah ich aus, als ich ihr auf den Flur folgte.

  »Entschuldige, ich wollte nicht –«

  »Du musst sofort in die Festung«, unterbrach sie mich. Ihr Blick war sehr beunruhigt.

  »In die Festung?« Meine Schuldgefühlte wurden augenblicklich von Sorge verdrängt. »Ist etwas mit Lucien?« Hatte die OmnI nun doch angegriffen? Aber draußen vor den Fenstern schien es ruhig zu sein.

  »Ich weiß es nicht.« Sie senkte die Stimme. »Saric hat gesagt, dass er sich im Refugium eingeschlossen hat und keinen Laut von sich gibt. Sie will die Tür gegen seinen Willen öffnen, wenn sich nicht bald etwas tut.«

  »Eingeschlossen? Warum? Ist etwas vorgefallen?« Er hatte nach dem Streit traurig, aber trotzdem beherrscht gewirkt. War danach noch etwas passiert?

  »Nichts, von dem Saric Kenntnis hätte.«

  Dann musste es doch an unserer Auseinandersetzung liegen. Ich schluckte. »Wie viele wissen davon?« In meinem Kopf formte sich das Bild von zwanzig Gardisten, die ihr Ohr an die Tür drückten und darüber spekulierten, warum ihr König sich allein im Refugium eingeschlossen hatte. Mein Magen drehte sich um. So etwas durfte auf keinen Fall passieren. Es war Lucien extrem wichtig, dass man ihn für stark hielt.

  »Keiner außer ihr. Sie wollte es mit Diskretion behandeln, deswegen hat sie keinen ihrer Kollegen hinzugezogen und sich stattdessen bei mir gemeldet. Du warst nicht erreichbar.«

  Meine Hand glitt ans Ohr. Ich hatte die EarLinks vorhin rausgenommen. So ein Mist.

  »Lynx?« Ich schaute ins Kinderzimmer. Er sah auf. »Ich muss leider dringend weg, aber ich besuche dich in den nächsten Tagen noch mal, okay?«

  Er nickte. »Okay.« Allerdings sah er so aus, als würde er sich fragen, was wohl los war. Wahrscheinlich hatte er auch die Intuition seines Onkels geerbt. »Meinst du, ich muss trotzdem die ganze Woche unsere DishUnit ausräumen?«

  »Ich bin sicher, das kannst du neu verhandeln. Bis dann.«

  Dann war ich auch schon auf der Treppe nach unten, lief in die Diele und sprang förmlich in meine Stiefel. Das Gespräch über die OmnI musste warten.

  Imogen war mir gefolgt.

  »Ist so was schon öfter passiert?«, fragte ich. Lucien hasste Leopolds Refugium. Was für einen Grund könnte es für ihn geben, sich dort einzuschließen? Tatsächlich unser Streit? Zum ersten Mal bereute ich es, vor drei Monaten keine andere Entscheidung getroffen zu haben. Vielleicht hätte ich das hier verhindern können.

  »Nicht, dass ich wüsste. Er war ein paarmal auf dem Dach, aber nur um frische Luft zu schnappen. Ich hatte eigentlich den Eindruck, er …« Imogen brach ab. »Wem mache ich etwas vor?« Sie warf einen Blick zur Treppe und seufzte. »Luc gibt sein Bestes, und das ist mehr, als irgendj
emand von ihm erwarten kann. Aber obwohl er den Job enorm gut macht, geht es ihm schlecht dabei. Er will mich das nicht spüren lassen, obwohl ich ihn kenne, seit er auf der Welt ist. Ich weiß trotzdem, dass er leidet wie ein Hund. Ich dachte, es wird besser, wenn du wieder da bist, nur …«

  »Nur hat das nicht funktioniert. Er wirft mir vor, dass ich ihn im Stich gelassen hätte.« Ich griff nach meiner Jacke. »Wir haben deswegen gestritten.«

  »Es ist nicht fair, wenn er so etwas sagt.«

  »Nein. Es ist aber auch nicht fair, dass ihm nahezu jeder Mensch genommen wurde, den er jemals geliebt hat.« Ich zog den Reißverschluss zu. »Gefühle sind eben nicht fair. Er hat mich gebraucht und ich war nicht da. Oder schon da, aber nicht dort, wo ich hätte sein sollen. Den Fehler mache ich nicht noch einmal.«

  Imogens Hand zuckte zu ihrem Mantel. »Soll ich mitkommen?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Bleib bei deinem Sohn. Ich melde mich, wenn ich weiß, was los ist.«

  »Okay.« Sie nickte und berührte mich kurz am Arm. »Bitte hilf ihm, Ophelia. Ich glaube, du bist die Einzige, die das kann.«

  Die Erinnerung an den Streit mit Lucien ließ mich schwer daran zweifeln. Trotzdem lächelte ich, so zuversichtlich ich konnte. Dann stieg ich die abgetretenen Stufen hinunter und bog um die Ecke der Gasse. Sobald ich auf der Straße war, begann ich zu laufen.

  Am Nachmittag hatte es geregnet und das Wasser auf dem Kopfsteinpflaster begann nun zu frieren. Ich spürte, wie rutschig es war, aber ich rannte trotzdem wie der Teufel – noch schneller rannten nur die Gedanken in meinem Kopf. Lucien war im Refugium und hatte die Tür verschlossen. So etwas machen nur Leute, die sich etwas antun wollen, zischte eine boshafte Stimme. Und du bist schuld.