- Home
- Kiefer, Lena
Die Sterne werden fallen Page 15
Die Sterne werden fallen Read online
Page 15
»Das stimmt.« Meine Mutter sagte es ungewohnt kleinlaut.
»Warum? Wenn sie und ich eine Verbindung hatten, wieso habt ihr dieses Band dann zerschnitten?« Es musste grausam für die OmnI gewesen sein, plötzlich ihre einzige Freundin zu verlieren.
»Das wollte Exon Costard so. Die OmnI wurde unter deinem Einfluss bald sehr eigenwillig, genau wie du. Ihr wart ein eingeschworenes Team, und sie hatte bald keine Lust mehr, mit jemand anderem als dir zu reden oder gar Befehle entgegenzunehmen. Exon war in dem Spiel der lästige Lehrer, dem sie sich permanent widersetzt hat. Er glaubte, wenn man dich aus dieser Gleichung löscht, dann fügt sie sich ihm.«
Mein Hass auf Costard wurde noch größer. Er hatte mich und die OmnI um unsere Freundschaft gebracht, nur weil sein Erfolg gefährdet gewesen war. Was für ein Arsch. »Und, hat sie das getan? Sich gefügt?«
»Nein.« Meine Mutter sah mich bedauernd an. »Sie hat permanent nach dir verlangt, also haben wir einen Teil ihres Programms umgeschrieben und so versucht, die Erinnerungen an dich zu entfernen, ohne ihren Lernfortschritt zu beeinflussen. Wir dachten auch, es hätte geklappt. Aber wir konnten das nicht mehr testen, denn dann kam die Abkehr.«
»Also weiß die OmnI das noch? Sie weiß, was Costard ihr angetan hat?« Hatte sie deswegen um meine Hilfe gebeten?
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nur weil sie sich an die Freundschaft mit dir erinnert, gilt das nicht automatisch auch für Costards Rolle in der ganzen Sache. Oder dass sie es ihm noch übel nimmt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie konntest du dabei mitmachen? Wie konntest du glauben, dass eine Intelligenz dieser Größenordnung kontrollierbar bleibt, wenn sie Zugang zu menschlichen Gefühlen bekommt? Oder dass sie nicht hohldrehen würde, wenn man ihr den einzigen Menschen wegnimmt, dem sie wirklich vertraut?« Ich sparte mir das: Wie konntest du deiner eigenen Tochter so etwas antun? Ich wusste, darauf würde ich keine zufriedenstellende Antwort bekommen.
»Costard war der Boss, Ophelia. Ich war dagegen, dich ihr wegzunehmen, aber er hat nicht auf mich gehört. Und er hatte keine Erfahrung mit dieser Art von Technologie. Niemand hatte das.« Sie stellte die Tasse ab und ihre Finger suchten Kontakt zur Küchenzeile hinter ihr. »Wir konnten nicht absehen, was passieren würde.«
Ich stand auf, weil ich nicht mehr stillsitzen konnte. »Ihr konntet es nicht absehen? Ihr konntet nicht absehen, dass ihr da gerade eine KI entwickelt, die uns zerstören kann?«
»Das will sie doch gar nicht«, sagte meine Mutter leise. »Zumindest wollte sie es nicht zu der Zeit, als ich noch an dem Projekt beteiligt war. Aber erst die Trennung von dir, dann die lange Gefangenschaft unten im Bunker und die damit verbundene Einsamkeit – das hat sie verändert. Genau wie jedes Wesen, wenn man es sechs Jahre ohne menschlichen Kontakt oder Zugang zu Informationen irgendwo einsperrt. Es war nie geplant, dass so etwas passiert – dass Leopold de Marais sie behalten und wegsperren würde, anstatt sie zu zerstören. Das war sein größter Fehler. Einer, den niemand mehr korrigieren kann.«
Jetzt schwieg ich und setzte mich wieder. Die OmnI hatte mir bei unserem Gespräch damals im Bunker versichert, dass sie den Menschen nichts antun wolle – keinem außer Leopold. Vielleicht war das sogar die Wahrheit, aber am Ende war sie trotzdem verdorben. Wie ein Kind, das man ohne Liebe aufwachsen lässt, hatte die OmnI ihr Mitgefühl verlernt und handelte jetzt nur noch aus Egoismus. Sie griff Maraisville an und tötete Menschen, weil sie unzufrieden war. Weil sie mich vermisste, den einzigen Menschen, mit dem sie wirklich etwas verband. Dabei wusste sie wahrscheinlich gar nicht mehr, warum.
»Glaubst du, sie ist zu retten?«, fragte ich und sah meine Mutter an. »Dass man sie irgendwie umstimmen könnte, wenn man sie aus Costards Händen befreit?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schaute auf ihre Finger. »Es ist viel passiert und die OmnI ist nun eine andere als damals. Exon hat sie vermutlich sehr eng an sich gebunden und nach allem, was du sagst, glaube ich, er manipuliert sie. Wahrscheinlich enthält er ihr ein gewisses Maß an Informationen vor, solange das Netz noch nicht aufgebaut ist. Und er beeinflusst sie offenbar auch emotional. Ob sie sich also von dem dunklen Pfad abbringen lässt, den sie eingeschlagen hat … das kann ich dir nicht sagen. Aber ich halte es nicht für wahrscheinlich. Deswegen brauchen wir ein Mittel gegen sie, eines, das wirkt.«
Ich atmete aus. »Bisher dachte ich, sie ist einfach nur der Feind, abgrundtief böse, genau wie Costard es ist. Nur … wie kann ich sie vernichten, wenn sie mich um Hilfe bittet? Wenn sie nur ein Opfer ist? Dann wäre ich wie er.«
Meine Mutter lehnte sich vor. »Du gehst davon aus, dass die abgebrühte Version der OmnI, die du gesehen hast, nicht echt ist – die hilflose Variante aber schon. Es kann allerdings auch genau andersherum sein. Vielleicht will sie dich auf diese Weise zu sich locken, vielleicht hat sie die Taktik gewechselt, als sie bemerkt hat, dass du dich ihr nie freiwillig anschließen wirst. Sie ist zu klug, um sie durchschauen zu können. Selbst für dich.«
Das war die Wahrheit, aber trotzdem hatte ich das Bedürfnis, es zu versuchen. Nur fehlte mir dafür etwas Wichtiges.
Ich sah meine Mutter an.
»Kann man sie eigentlich wiederherstellen? Meine Erinnerungen aus der Zeit, als die OmnI und ich Freunde waren? Vielleicht mit einem Restoring?«
Sie runzelte die Stirn. »Du meinst diese grauenhafte Prozedur, die Lehairs Tochter entwickelt hat? Kommt nicht infrage.«
»Aber ich brauche die Erinnerungen an ExonSolutions! Wenn ich die OmnI verstehen will, muss ich wissen, was uns verbindet und wie sie tickt.«
Jetzt sah meine Mutter ernsthaft besorgt aus. »Das geht nicht. Deine Erinnerungen sind nicht einfach entfernt worden wie bei einem Clearing. Sie wurden ersetzt. Ich wüsste keinen Weg, wie man sie auf sichere Weise zurückholen könnte.«
»Oh, dann vergiss doch einfach das Sicher darin«, sagte ich spöttisch, obwohl ich ihr glaubte, dass meine Erinnerungen weg waren. Trotzdem konnte ich mir diese Spitze nicht verkneifen. »Du musst nur die Sorge darum abschalten, dass mir dabei etwas passieren könnte, genau wie früher.«
»Ophelia –«
»Nein«, schnitt ich ihr das Wort ab, bereits auf dem Weg zur Tür. Ich musste hier raus. »Jedes Mal, wenn wir über die OmnI reden, gibt es wieder etwas Neues, das du mir verschwiegen hast. Wenn du also Angst hast, ich könnte erneut etwas herausfinden –«
»Das ist es nicht«, unterbrach sie mich diesmal. »Ich weiß, dass es nicht richtig war, deine Erinnerungen zu löschen.«
Ich schnaubte, die Hand an der Klinke. »Falsch, Mum. Es war nicht richtig, mich überhaupt für diese Experimente zu benutzen. Mir die Erinnerungen daran zu nehmen, war noch das Harmloseste daran.«
Damit ließ ich sie stehen und ging hinaus. Das Geräusch der zuschlagenden Tür in meinem Rücken untermalte meinen Abgang, aber das half nicht gegen meine Ratlosigkeit. Ich war hergekommen, um ein paar Antworten zu bekommen. Stattdessen hatte ich nun noch mehr Fragen, ohne einen Plan, wie ich sie klären sollte.
Vielleicht half es, wenn ich noch eine Runde Laufen ging.
15
Ich hatte im letzten Jahr viel gelernt: Sprachen, Nahkampf, den Umgang mit Waffen, professionelles Lügen oder das Überleben eines Ausflugs auf eine schwimmende Todesinsel. Was ich nicht gelernt und auch vorher nie gut gekonnt hatte, war das Aufschieben unangenehmer Gespräche. Dafür machte ich, was das anging, meine Sache heute ausgezeichnet.
Erst lief ich tatsächlich noch eine Runde, dann übernahm ich freiwillig zwei Schichten in der Überwachungszentrale und behielt Jye im Auge, der heute einen Transporttag hatte, sodass ich ihn leider nicht sprechen konnte. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, wie ich mit der OmnI-Sache umgehen sollte.
Meine EarLinks blieben den ganzen Tag stumm, niemand fragte nach mir, niemand wollte mich sehen. So war es schon die letzten zwei Wochen gewesen, aber deswegen tat es trotzdem unvermindert weh. Ich hätte mir sagen können, dass Lucien einfach zu beschäftigt war, schließlich gab es jeden Tag neue Hiobsbotschaften, aber die Wahrheit war: Er br
auchte mich nicht. Weder mein Wissen noch meine Nähe oder Unterstützung.
Nachdem ich mir zum Abendessen ein Sandwich aus der Küche geholt und direkt vor den Screens verputzt hatte, ließ ich mich dann doch von einem Schakal ablösen und fuhr nach oben in den fünften Stock. Trotz allem wollte ich Lucien von der OmnI erzählen. Vielleicht zeigte ihm das ja, dass wir immer noch ein Team sein konnten, wenn er es zuließ.
Draußen war es dunkel, genau wie in Luciens Räumen, offenbar war er nicht da. Dann eben morgen. Ich machte mir nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, weil ich direkt ins Bett gehen und noch einen Brief an meinen Bruder schreiben wollte. Deswegen sah ich erst im letzten Moment, dass jemand auf dem Sofa saß. Eine dunkle Gestalt, reglos, den Kopf in die Hände gestützt.
»Lucien?«
Er antwortete nicht, aber ich wusste, dass er es war. Wenn nicht, hätte ich etwas anderes als diese tiefe, atemberaubende Sorge gefühlt.
»Licht 20 Prozent«, bat ich Eden. Sofort wurde der Raum von einem schwachen Schein erhellt. Lucien nahm die Hände vom Gesicht, sah mich aber trotzdem nicht an.
»Hey, was ist los?« Ich ging vor ihm in die Hocke, die Hände auf seine Knie gelegt. Er trug zu seiner dunklen Hose eines der schwarzen Hemden, die zu einer Art Uniform für ihn geworden waren. Seine Augen blickten merkwürdig leer an mir vorbei. »Luc, bitte rede mit mir. Was ist passiert?« Niemand hatte mir etwas gesagt und auch der Schakal unten im Überwachungsraum hatte kein Wort über eine neue Katastrophe verloren. Was also war dafür verantwortlich, dass Lucien hier so apathisch in der Dunkelheit saß?
»Ich muss …« Er brach ab, offensichtlich bewegt, obwohl seine Stimme wie meist in letzter Zeit emotionslos und nüchtern klang. »Ich muss entscheiden, ob ich fünfzig Menschen in den Tod schicke.«
Ich stand auf und setzte mich neben ihn. »Was meinst du damit?«
»Wir haben vor einer Stunde einen Hinweis von einem unserer Informanten erhalten, der in der Nähe von Berlin ein stillgelegtes Militärareal beobachtet. Am Nachmittag ist dort ein ganzer Konvoi aus schwer bewaffneten ReVerse-Leuten angerückt und hat mehrere große Behälter abgeladen – ohne Zweifel technisches Equipment, Kühlelemente, solche Sachen. Wir haben ein Team aus Schakalen hingeschickt, und sie sagen, es sei möglich, dass die OmnI dort untergebracht wurde. Der physische Kern von ihr.«
Du bekommst so eine Nachricht und sagst mir nicht Bescheid? Ich wollte es laut aussprechen, aber dann ließ ich es doch. Vorwürfe brachten hier niemanden weiter. Doch von meinem Gespräch mit der OmnI konnte ich jetzt auch nichts sagen. Es würde so wirken, als hätte ich es nicht aus freien Stücken getan.
Lucien holte Luft. »Ich soll einige Soldaten hineinschicken, um den ganzen Laden hochzujagen und damit auch die OmnI. Aber wer da reingeht, kommt nicht wieder lebend raus. Der ganze Komplex ist völlig verwinkelt, voll mit Costards Leuten, und um die OmnI zu zerstören, braucht es sehr viel Sprengstoff. Es ist eine Selbstmordmission. Und am Ende könnte es auch nur eine Finte sein.« Er atmete wieder aus. »Es ist eine große Chance, sie empfindlich zu treffen. Nur … weiß ich nicht, ob ich fünfzig Männern und Frauen befehlen kann, in den Tod zu gehen.«
Ich atmete ein. »Ein Luftangriff kommt nicht infrage?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das Gebäude hat mehrere Untergeschosse und ist gegen Beschuss abgesichert.«
»Drohnen?«
»Die dürfen ihnen nicht in die Hände fallen. Und wir haben keine Ahnung, ob die OmnI sie nicht hacken kann, sobald sie in ihre Nähe kommen.«
Also gab es keine andere Chance.
»Wann musst du das entscheiden?«, fragte ich leise.
»Morgen früh sollen sich die Soldaten auf den Weg machen.«
Lucien wirkte so verletzlich wie nie, seit ich wieder bei ihm war, aber trotzdem war da diese Mauer zwischen uns. Ich wusste nicht, ob ich ihn berühren sollte oder ob er meinen Rat wollte. Ich fand einfach keinen Zugang mehr zu ihm. Er saß vor mir, sah aus wie er selbst, aber war trotzdem ein anderer. Das machte mich so hilflos. Und diese Hilflosigkeit und der Wunsch danach, die Mauer zu durchbrechen, brachten mich dazu, etwas Radikales vorzuschlagen.
»Wenn du willst, gehe ich für dich dort rein. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ohne zu –«
»Du willst da reingehen?« Er starrte mich an, aber es war kein besorgtes Starren. Es war verärgert. »Klar, ich verstehe. Du kannst es wohl kaum erwarten, wieder von hier zu verschwinden, was?« Sein Tonfall war messerscharf.
»Von hier verschwinden?«, fragte ich perplex und griff nun doch nach seiner Hand. »Ich will nicht von hier weg. Ich will dir doch nur helfen.«
»Ach, auf einmal?« Lucien zog die Hand ruckartig aus meiner. »Auf einmal willst du helfen?« Sein Blick war kalt und strafend – und völlig fremd für mich. Es war nicht der Blick von Lucien, dem Schakal, der sich trotzdem etwas Leichtes, etwas Frohes und Unbeschwertes bewahrt hatte. Es war der Blick eines Königs. Mein Magen verhärtete sich.
»Natürlich will ich helfen«, beteuerte ich.
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte er kühl.
»Warum sagst du so was?« Als ich ihn ansah, kam mir plötzlich ein Satz in den Sinn, den ich vor Ewigkeiten hier in diesen Räumen gehört hatte. Ich ertrage viel, aber kein Leben, das mich rund um die Uhr zum Lügen zwingt. Plötzlich wurde mir klar, warum Lucien so fremd auf mich wirkte, so weit weg und völlig anders, als ich ihn kannte: Er spielte eine Rolle. Die Rolle des Königs Lucien de Marais, der jede Katastrophe überstehen, jede schwere Entscheidung treffen konnte, ohne dabei Schaden zu nehmen. Nur dass er diese Maske nicht mehr ablegte, auch vor mir nicht. Er kam nicht mehr aus dieser Version von sich heraus, nicht in Pausen, nicht am Abend oder in der Nacht. Wieso bemerkte ich das erst jetzt?
»Weil es die Wahrheit ist.« Er stand auf und entzog sich mir damit. Ich konnte zusehen, wie er um die Fassade kämpfte, die er so eisern perfektioniert hatte.
»Lucien, ich bin es«, sagte ich mit bebender Stimme, weil der Schmerz in meinem Herzen mich aus dem Tritt brachte. »Ich bin auf deiner Seite, okay? Du brauchst diese Maske bei mir nicht.«
»Diese Maske? Das ist es, wofür du es hältst? Eine Maske, die man am Abend in die Schublade legen kann?« Das Funkeln in seinen Augen wurde aggressiv. Mein Angebot, die OmnI zu zerstören, hatte etwas in ihm geweckt, das er mühsam versteckt hatte: Wut. Ich spürte Hoffnung und zugleich Angst. Vielleicht war diese Wut eine Chance. Vielleicht war sie auch das Ende.
Ich stand ebenfalls auf. »Du hast eine Version von dir erschaffen, die für dich, für dieses Amt funktioniert. Aber das bist nicht du, das ist nicht der Lucien, den ich kenne.« Ich versuchte es mit einem sanften Tonfall, aber ich scheiterte an meinen Gefühlen.
»Ja, und warum glaubst du, ist das so?!«, schnauzte Lucien mich an. »Weil ich hier irgendwie überleben muss! Weil ich seit Leos Tod vollkommen allein bin in dieser verfluchten Stadt! Niemand interessiert sich einen Scheiß für den Lucien, den du kennst!«
Ich schnappte nach Luft, weil diese Anklage voll ins Schwarze traf. »Doch, ich schon«, sagte ich dann leise.
Er schnaubte und drehte sich zum Fenster. »Ja, das habe ich gemerkt«, erwiderte er bitter. »Du interessierst dich so sehr für mich, dass du drei Monate weg warst und nur zurückgekommen bist, weil du keine andere Wahl hattest!« Er wandte sich wieder zu mir um. »Wie wichtig kann ich dir sein, wenn du lieber Reise-durch-Europa spielst, statt hier zu sein?«
Er spie mir diesen gigantischen Vorwurf förmlich vor die Füße und fegte mich damit fast um. Nur die darin enthaltene Ungerechtigkeit ließ mich noch aufrecht stehen. Ich holte Luft.
»Ich war da draußen und habe alles dafür getan, damit die OmnI nicht gewinnt! Für dich, Lucien! Das weißt du!« Wir hatten doch darüber gesprochen, damals am Bunker. Ich hatte es ihm erklärt.
»Du hast das nicht für mich getan, sondern nur für dich selbst!«, rief er. »Weil du die Schuldgefühle nicht ertragen konntest, die dich nach Leopolds Tod überschwemmt haben! Mir war es egal, was du getan hast, ich habe dich t
rotzdem geliebt und ich wäre für dich da gewesen. Aber anstatt dass du damit zu mir kommst, damit wir es gemeinsam durchstehen, bist du abgehauen!«
Wut kochte in mir hoch. Das war so unglaublich ungerecht. »Ich bin nicht abgehauen!«, schrie ich. »Ich habe mich nützlich gemacht, ich habe für dich gekämpft, für uns alle! Weißt du eigentlich, wie unfair du bist?«
»Ja, das weiß ich!«, brüllte er zurück. »Der Teil von mir, der versucht, dieses Land zu regieren, weiß sehr genau, dass du eine verdammte Heldin bist, die das Richtige tun will! Aber dem anderen Teil ist das scheißegal. Und der hätte dich hier gebraucht!«
»Wozu denn?!«, rief ich. »Was zur Hölle hätte ich hier tun können? Sinnlos herumsitzen und mich von der ganzen Stadt hassen lassen, so wie jetzt?«
»Du hättest für mich da sein können, Ophelia!«, fuhr er mich an. »Du hättest dafür sorgen können, dass ich wenigstens eine Stunde am Tag ich selbst sein kann! Du hättest ein einziges Mal in deinem Leben nicht nur an dich denken können! Aber dir war dein verfluchtes Ego wichtiger!«
Ich zuckte zusammen, als er die gleichen Worte gebrauchte wie vor einer Weile auch Knox.
»Mein Ego? Du meinst, ich hatte Spaß daran, mit irgendwelchen Söldnern bei Eiseskälte durch die Landschaft zu gondeln und zu verhindern, dass die OmnI Zugriff auf die öffentliche Versorgung bekommt? Oder daran, mir jeden Abend anzuhören, auf welch grausame Arten Costards Leute dich töten wollen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen?!« Ich funkelte ihn an. »Glaub mir, ich hätte liebend gern hier auf diesem Sofa gesessen, im Warmen und in Sicherheit!«
»So wie ich, meinst du?« Lucien kam zwei Schritte auf mich zu und beinahe wäre ich zurückgewichen. »Weißt du, wie es ist, wenn man hier eingesperrt ist? Wenn du dich nicht bewegen kannst, keinen Meter? Wenn du nicht einmal das Haus verlassen darfst, ohne dass dich zwanzig Leute begleiten? Wenn du jeden Tag Entscheidungen über das Leben anderer Menschen treffen musst, und sie für dich kämpfen, während du rein gar nichts tun darfst? Und wenn du weißt, dass es den Rest deines Lebens so bleiben wird?« Er schnaubte. »Ich wache jeden Morgen auf und weiß, dass es nie wieder besser wird, dass es kein Entkommen gibt. Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt?!« Ich schwieg und er lachte wieder bitter. »Dachte ich mir. Sonst wärst du nicht so lange weggeblieben.«