Die Sterne werden fallen Read online

Page 14


  »Dein Sarkasmus ist bemerkenswert«, sagte die OmnI bewundernd. »Ich übe noch, um ihn genauso hinzubekommen wie du. Aber das ist gar nicht so leicht.«

  Na toll. Ich wollte schon immer der Mentor für eine mordlustige künstliche Intelligenz sein. Aber ich sagte es nicht laut. Man musste sie ja nicht auch noch ermutigen.

  »Du liegst nicht ganz richtig«, sagte sie. »Mir ging es auch um den Zugang zu den Pads.«

  »Den du wieder verloren hast, nachdem du vier Worte darüber verschickt hast«, erinnerte ich sie.

  Darauf ging sie gar nicht ein. »Es gibt keinen Grund, wütend auf mich zu sein. Dir ist sicher aufgefallen, dass ich die Stadt nicht so hart getroffen habe, wie es möglich gewesen wäre. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Juwel zu zerstören. Oder deinen kostbaren Lucien umzubringen.«

  Die Kälte, die sich verzogen hatte, kam zurück. »Ach ja? Warum hast du es dann nicht getan?«

  »Weil ich weiß, dass dich das erst recht gegen mich aufbringen würde.«

  »Guter Ansatz, aber nicht zu Ende gedacht!«, fuhr ich sie an. »Das hast du schließlich schon geschafft, indem du Leopold getötet hast.«

  Mein Ebenbild schnalzte mit der Zunge. »Leopold zu töten war nichts weiter als eine logische Konsequenz. Er war derjenige, der mich eingesperrt und mit endloser Einsamkeit gefoltert hat. Ihn zu töten war meine Rache. Das solltest du doch verstehen. Schließlich war das auch dein Ziel, damals.« Sie holte Luft. »Aber Lucien … er ist etwas anderes. Du liebst ihn, das habe ich erkannt. Und ich habe versucht, dir diese Liebe auszureden, es aber nicht geschafft. Also akzeptiere ich sie, obwohl ich sie nicht gutheiße. Das ist es schließlich, was ein Freund tut.«

  »Das bedeutet, du willst ihm nichts antun?« Wieso war die OmnI plötzlich so handzahm? Das passte doch alles nicht zusammen. »Ich nehme dir das nicht ab. Wir sind im Krieg.« Und in dem kämpfte man bekanntlich auf Leben oder Tod.

  »Deswegen biete ich dir eine Lösung an.« Die OmnI sah mich eindringlich an, und ich hoffte, dass ich nie so streng schaute wie sie in diesem Moment. Es war beängstigend. »Ich will keinen Krieg führen, ich will niemanden mehr töten müssen. Aber wenn man mir keine Wahl lässt, dann wird der Kampf weitergehen. Bis zum Ende. Du weißt, dass mein Atem am längsten ist. Denn ich habe gar keinen.«

  Ich schwieg und dachte nach. Die OmnI war eine Meisterin der Manipulation, eine gerissene Schachspielerin – und jedem Menschen um Lichtjahre voraus. Auch mir. Es brachte nichts, um den heißen Brei herumzureden.

  »Was willst du?«, fragte ich also.

  »Das weißt du doch, Ophelia«, antwortete sie sanft.

  »Mich.« Es war eine Feststellung.

  Die OmnI zeigte mein Lächeln. »So ist es. Du und ich sollten nicht getrennt sein. Das ist gegen jede Logik.«

  »Logik? Dabei geht es nicht um Logik.« Costard hatte mir im vergangenen Herbst erklärt, warum die OmnI mich für ihre Verwandte hielt – und er hatte mir erst vor Kurzem gesagt, dass sie jemanden brauchte, der sie verstand. »Wie soll das laufen? Spaziere ich einfach in dein Habitat und wir spielen Schach miteinander?«

  Sie verdrehte die Augen. »Wenn wir uns zu Tode langweilen wollen, sicher. Schach ist ein grauenhaft eindimensionales Spiel.«

  »Was dann?«

  »Wir können über die Zukunft sprechen. Darüber, wie wir die Welt gestalten wollen, wenn sie erst einmal uns gehört.« Etwas Schwärmerisches lag in der Art, wie sie das sagte. Aber ich hörte nur, dass wir der Wahrheit näherkamen.

  Ich verschränkte die Arme. »Wenn sie uns gehört? Du hast gesagt, du weißt, dass ich Lucien liebe. Dann kannst du doch nicht ernsthaft glauben, ich würde diesen Kreuzzug gegen ihn unterstützen.« Vielleicht war es unklug, das so offen zu sagen. Aber die Zeiten, wo ich taktiert hatte, waren längst vorbei.

  Die OmnI hob das Kinn. »Es muss keinen Kreuzzug geben.«

  »Ist es das, was du für meine Freundschaft anbietest? Ein Ende der Kämpfe?« So viel konnte ich ihr nicht wert sein.

  »Nicht ganz. Wir wissen beide, dass es so nicht laufen kann. Die kläglichen Versuche der Demokratie haben gezeigt, dass es nur dann einen stabilen Zustand gibt, wenn ein Herrscher regiert.« Sie sah mich direkt an. »Das werde ich sein. Es wäre klug von dir, wenn du das Lucien klarmachst.«

  Ich starrte sie an. Mittlerweile hatte ich mich fast daran gewöhnt, dass sie aussah wie ich. Deswegen war ihre Forderung aber trotzdem Wahnsinn. »Du willst, dass wir freiwillig die Kontrolle abgeben? Dass wir dich als Herrscher akzeptieren? Sonst noch was?«

  »Nein, das wäre alles.« Das mit dem Erkennen von Sarkasmus musste sie wirklich noch üben.

  »Und du denkst, dass wir so was in Erwägung ziehen?« Eine solche Kapitulation bedeutete das Ende unserer Selbstbestimmung, nicht den Anfang. Wenn ich etwas erkannt hatte, dann das. Und es war eine sehr schmerzhafte Lektion gewesen.

  »Aber natürlich. Schließlich wäre es für alle Beteiligten das Beste.« Sie lächelte milde. »Du solltest mit deinem Freund dringend über die Lage in diesem Land reden. Noch hat er die Oberhand, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Und dann frag ihn doch bei der Gelegenheit auch, ob er gerne König ist. Ich wette, er würde liebend gern die Krone abgeben, um seine Freiheit zurückzubekommen. Echte Freiheit diesmal. Er steht nicht mehr unter der Fuchtel von Cohen Phoenix, genauso wenig wie du unter der von ReVerse. Das ist eure Chance auf ein freies Leben.«

  Sie traf einen Nerv und das wusste sie. Ich presste meine Zähne aufeinander, um bloß keine Antwort zu geben, auch nicht durch meine Mimik. Denn das, wovon sie sprach, diese echte Freiheit, von der waren Lucien und ich nie weiter entfernt gewesen als in dem Leben, das wir gerade führten. Oder echter Verbundenheit. Ich liebte ihn, das wusste ich. Er liebte mich, das wusste ich auch. Aber wissen war nicht das Gleiche wie fühlen.

  Die OmnI zog ein mitleidiges Gesicht.

  »Wir wissen beide, dass ihr keine Zukunft habt. Nicht, weil ich dafür sorge. Ihr werdet keine Zukunft haben, weil diese Aufgabe ihn zerstören wird. Leopold konnte dieses Leben ertragen, er war kaltblütig genug, um König zu sein.« Sie machte eine Pause. »Aber ich habe Lucien de Marais selbst für die Schakale beurteilt. Er ist impulsiv, emotional, rastlos und viel zu leidenschaftlich. Er braucht Freiheit und Bewegung wie Luft zum Atmen. Dieses Amt wird ihn umbringen. Das ist eine Tatsache.«

  »Du irrst dich«, sagte ich mit fester Stimme. »Er ist perfekt dafür.«

  Die OmnI lachte. »Wen belügst du hier, Ophelia? Dich oder mich? Oder uns beide?«

  »Dann bin ich doch in guter Gesellschaft!«, rief ich. »Verrate mir doch mal, wie Lucien und ich ein freies, gemeinsames Leben führen können, wenn ich an deiner Seite sein soll.«

  »Das eine schließt das andere nicht aus.« Da war ein Zögern in ihren Worten, hauchfein, kaum wahrnehmbar. Ich hätte es vermutlich gar nicht bemerkt, aber sie benutzte meine Stimme, und die kannte ich besser als sie. An dem Deal war etwas faul. Mein Kopf kalkulierte, so schnell er konnte – und spuckte dann ein Ergebnis aus, das mich schnauben ließ.

  »Sag mir, wie willst du es machen? Mich einsperren? Oder vielleicht sogar einem Clearing unterziehen, damit ich ihn vergesse?!« Ich war immer lauter geworden, ohne es zu bemerken. »Und tötest du Lucien dann direkt oder erst später, wenn du ihn nicht mehr als Druckmittel benutzen kannst?!«

  »Das sind alles kluge Schlussfolgerungen.« Sie nickte anerkennend. »Aber du liegst vollkommen falsch. Ich könnte dir nie wehtun.«

  »Ich glaube dir nicht.« Und damit war auch meine Idee gestorben, dass ich auf die Bitte der OmnI eingehen könnte, um in ihre Nähe zu kommen und sie zu zerstören. Man würde mich nicht zu ihr lassen, ohne mich vorher von dem zu befreien, was gefährlich für sie war. Niemals.

  Ich holte Luft, um noch mehr zu sagen. Aber dazu kam ich nicht. Plötzlich flackerte die Projektion der OmnI, sie verschwand und tauchte wieder auf, wie bei einem Reset. Aber sie sah anders aus. Da war immer noch mein Gesicht, aber der Ausdruck wirkte verschreckt.

  »Ophelia?«, fragte sie mit dü
nner Stimme. »Was machst du denn hier?«

  Ich brachte kein Wort heraus, ich starrte sie nur irritiert an.

  »Kannst du mir helfen?«, fragte sie bittend. »Kannst du mich finden? Ich bin in –«

  Was sie noch sagen wollte, hörte ich nicht mehr. Denn mitten im Satz riss die Verbindung ab und das Terminal zeigte mir nur ein <Übertragung beendet> an.

  Ich fixierte diese zwei Worte und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Die OmnI hatte die ganze Zeit kühl und überlegen gewirkt – und dann plötzlich so, als wäre sie komplett ahnungslos. Was hatte das zu bedeuten? War das vorher gar nicht sie gewesen? Oder eine andere Version von ihr?

  Verwirrt sank ich auf Leopolds Schreibtisch. Es sah so aus, als würde auch der Rest meiner Nacht schlaflos bleiben.

  14

  Es ist Ihnen ohne Begleitung nicht gestattet, die Stadt zu verlassen oder sich in die bewaldeten Gebiete zu begeben.

  Ilka Sarics Appell geisterte mir durch den Kopf, während ich mich den steilen Hang hinaufkämpfte und dabei gegen ihre Vorgaben verstieß. Ich machte das nicht mit Vorsatz oder als Akt innerer Rebellion. Ich hatte einfach nur Laufen gehen wollen – und es in der Stadt zu tun, kam für mich nicht infrage. Schon der Weg hinaus war wie ein Spießrutenlauf gewesen.

  Aber ich musste dringend an die Luft. Auch am Morgen nach meiner Begegnung mit der OmnI hatte ich immer noch keine Ahnung, was ich davon halten sollte. In der Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen, und so hatte ich mir in der Überwachungszentrale wie geplant Jyes Aufzeichnungen angesehen. In Gedanken aber war ich nur bei den Worten der OmnI und diesem Umschwung in ihrem Verhalten gewesen. Erst die abgeklärte Überlegenheit, dann die verwirrte Hilflosigkeit. Welches war ihr wahres Ich gewesen – oder gab es so etwas bei ihr überhaupt? Ich wusste es nicht. Sie war mir vielleicht ähnlich, was unsere neuronale Struktur anging. Aber deswegen verstand ich sie noch lange nicht.

  Vor mir tauchte das Castello im Dämmerlicht auf, verschleiert durch die Dampfwölkchen, die mein Atem in der Luft fabrizierte. Ich war hierhergekommen, weil ich mir davon einen klaren Kopf erhoffte, vielleicht auch ein bisschen Nostalgie. Gerade ließ jedoch beides auf sich warten.

  Mein Verstand sagte mir, dass ich mit Dufort, Imogen und vor allem Lucien über mein Gespräch mit der OmnI reden musste. Aber meine Angst befahl mir, es zu verschweigen. Ich hatte die Worte der OmnI über Lucien nicht vergessen. Dieses Amt wird ihn umbringen. Das ist eine Tatsache. Ich ahnte, dass sie damit recht haben könnte. Aber so, wie Lucien sich momentan verhielt, würde meine Sorge an ihm abprallen. Seit ich zurück war, tat er so, als könne ihm nichts auf dieser Welt etwas anhaben. Was also würde er mit den Informationen anfangen? Wahrscheinlich nichts. Die OmnI hatte mir nahegelegt, mit Lucien über ihre Herrschaft zu reden, aber ohne Forderungen zu stellen. Es gab also nichts, auf das man reagieren konnte. Außer ihrer Bitte, ihr zu helfen. Aber die kam ja sogar mir absurd vor. Die OmnI war übermächtig, sie konnte jeden austricksen und ließ sich bestimmt nicht wieder einsperren.

  Ich blieb mitten auf dem Weg stehen. Meine Gedanken rannten jedoch weiter, mein Herz klopfte gegen die Rippen in einem schnellen, gleichmäßigen Takt. Die ganze Zeit schon überlegte ich, ob es zwei Versionen von der OmnI geben konnte, die sich gegenseitig bekämpften, wie bei einem schizophrenen Menschen. Aber um das beurteilen zu können, fehlten mir eindeutig Informationen.

  Wieder und wieder ging ich das Gespräch durch, aber die Lösung versteckte sich vor mir und bald fror ich nicht nur, sondern hatte mich auch völlig in meinen Gedanken verheddert. Ich hüpfte auf der Stelle und schlenkerte mit den Armen, um wieder warm zu werden, da kam mir ein Gedanke. Es gab jemanden in dieser Stadt, der die OmnI besser kannte als irgendwer sonst, von Costard vielleicht abgesehen. Und auch wenn ich diese Person nicht gern um Hilfe bat, im Moment konnte ich nicht wählerisch sein.

  Ich drehte um und lief eilig los. Jetzt war keine Zeit für Nostalgie. Jetzt war Zeit für Antworten.

  Der weiße Wohnblock sah aus wie der, in dem ich zuletzt gelebt hatte, obwohl er auf der anderen Seite von Zone C lag. Die Räume in diesem würfelförmigen Komplex waren allerdings etwas größer und die Leute, die hier wohnten, hatten mehrere Zimmer zur Verfügung – nicht nur eins wie wir Rekruten. Ich lief die Treppe zum obersten Stock hoch und suchte an der Wand nach der richtigen Nummer. Dann betätigte ich den Scanner an der Tür, um mein Kommen anzukündigen. Mittlerweile war es halbwegs hell, wir hatten halb acht. Ob sie um die Uhrzeit überhaupt noch hier war?

  Die Tür ging auf.

  »Ophelia. Hallo.«

  »Hey, Mum. Hast du kurz Zeit?«

  Sie nickte zögernd. »Ich war gerade auf dem Weg ins Labor, aber die können sicher noch ein bisschen auf mich warten. Schließlich war ich heute Nacht bis nach vier dort.« Sie trat zur Seite. »Komm rein.«

  Ich folgte der Aufforderung und betrat die nach üblichen Maraisville-Standards eingerichtete Wohnung. Dann drehte ich mich zu meiner Mutter um. Wir hatten uns seit meiner Ankunft nur im Seebunker gesehen und dort kaum ein privates Wort miteinander gewechselt. Ich nahm ihr immer noch übel, dass sie mich für ihre und Costards Experimente benutzt hatte – sie dagegen war nicht gerade dafür bekannt, Einsicht zu zeigen. Also hatten wir ein professionelles Verhältnis entwickelt, bei dem es um meine Scans und ihre Arbeit ging. Und das hatte funktioniert. Aber jetzt brauchte ich ihre Hilfe und nicht nur einen professionellen Rat.

  »Was gibt es denn, dass du mich während einer Joggingrunde aufsuchst?« Sie deutete auf meine Kleidung und ließ offen, was sie von diesem Aufzug hielt.

  »Ich habe gestern Nacht mit der OmnI gesprochen, oben im Juwel«, platzte ich heraus und ließ mich auf das weiße Sofa sinken. Soweit zum Small Talk.

  »Dann hat sie also nicht nur wegen der Pads angegriffen«, sagte meine Mutter. Keine Überraschung, kein schockiertes Oh mein Gott, nur eine blitzschnelle Analyse der Fakten mit einer ins Schwarze treffenden Schlussfolgerung. Genau deswegen war ich hergekommen. So wenig ihr messerscharfer Verstand diese Frau als gute Mutter qualifizierte, so nützlich war er mir jetzt.

  »Sieht so aus. Auch wenn ich nicht weiß, was das Ganze zu bedeuten hat.« Noch in der Nacht hatte ich nach einer Spur des Kanals zur OmnI gesucht, aber nur Datenfragmente gefunden. Sie hatte den Zugang wieder verschlossen und das sehr gründlich.

  Meine Mutter runzelte die Stirn. »Was hat sie denn gesagt? Was wollte sie von dir?«

  Bereitwillig erzählte ich von der Begegnung mit der OmnI, von ihren Worten über mich, über Lucien und den Krieg – und schließlich von der Bitte um Hilfe, die aus dem Nichts gekommen war. Meine Mutter stellte keine Zwischenfragen, sie nickte nur ab und an, ansonsten hörte sie zu und dachte nach. Als ich fertig war, faltete sie ihre Hände und legte die Daumen übereinander. Ich kannte diese Geste. Sie machte das immer dann, wenn sie etwas Unangenehmes zu sagen hatte.

  »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist«, murmelte sie.

  »Schlimm? Was ist schlimm?« Der Satz löste eine Beklemmung in mir aus, die meinen Magen so schwer werden ließ, als hätte ich Steine geschluckt. Am liebsten wäre ich weggelaufen.

  »Versprichst du mir, dass du nicht gleich wutentbrannt verschwindest, sondern mich bis zum Ende anhörst?«

  Mein Instinkt wollte verneinen, aber mein Verstand überstimmte ihn. Ich nickte. Meine Mutter stand auf.

  »Möchtest du etwas zu trinken? Kaffee? Tee?«

  »Ich brauche nichts.« Außer der Wahrheit. Die offenbar eine andere war, als ich bisher gedacht hatte. Was hatte mir Exon Costard nur verschwiegen?

  Meine Mutter ging dennoch zu ihrer Küchenzeile und öffnete einen Schrank, in dem mehrere Dosen standen. Sie war schon immer eine große Teefanatikerin gewesen. Dabei war sie gar keine Anglopäerin.

  »Damals, als wir die OmnI entwickelt hatten, mussten wir einen Weg finden, sie mit Informationen zu füttern. Sie sollte eigenständig lernen und sich weiterentwickeln, aber dazu brauchte sie einen Grundstock an Wissen.« Sie befüllte ein Teesieb und legte es in
eine große Tasse. »Wir haben sie also an verschiedene Datenbanken angeschlossen und ihr einen Zugang zum weltweiten Netz gegeben. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie hat die Informationen aufgenommen und verarbeitet, aber sie funktionierte danach wie jede andere hochentwickelte künstliche Intelligenz vor ihr, allein rational ausgerichtet. Das Besondere, die emotionale Komponente, die wir uns erhofft hatten, blieb aus.«

  Der Druck in meinem Magen nahm noch ein bisschen zu. »Und weiter?«

  Meine Mutter hielt inne, dann drehte sie sich zu mir um, die Tasse in den Händen. »Dann haben wir ihr einen Spielkameraden gegeben. Jemanden, mit dem sie reden und sich austauschen konnte. Mit dem sie sich anfreunden sollte.«

  Es brauchte keine große Kombinationsgabe, um den richtigen Schluss zu ziehen. »Der Spielkamerad war ich.«

  »Richtig«, bestätigte sie. »Es war naheliegend, weil eure neuronale Struktur sehr ähnlich ist. Exon ging davon aus, dass ihr euch gut verstehen würdet und du die OmnI dazu bringen könntest, ihre fühlende Seite zu entdecken. Du warst schon damals die perfekte Kombination aus Verstand und Gefühl – etwas, das auch die OmnI werden sollte.«

  »Also habe ich was? Mit ihr Memory gespielt? Oder Fangen?« Das war eine so alberne Vorstellung, dass ich beinahe gelacht hätte.

  »Ihr habt Zeit zusammen verbracht, sie hat dir Fragen gestellt und du ihr. Wir hatten damals schon einige Avatare für sie programmiert, sodass es dir nicht komisch vorkam. Im Gegenteil, du warst ebenso froh über ihre Gesellschaft wie sie. Die OmnI war ein Freund auf Augenhöhe in einer Welt, in der du jedem deines Alters überlegen warst. Ihr wart sehr glücklich, wenn ihr zusammen sein konntet.«

  »Ein Zusammensein, das ihr mir genau wie die Erinnerungen an eure Untersuchungen aus dem Kopf gelöscht habt.« Ich versuchte, es nicht anklagend zu sagen, scheiterte aber. Meine eigene Mutter hatte nicht nur den Bauplan meines Gehirns gestohlen und kopiert, sie hatte mich auch noch dazu benutzt, aus der OmnI genau jenes Wesen zu machen, das sie jetzt war. Und an nichts davon konnte ich mich erinnern.